10 Augenpaare starren mich an, akupunktieren mich mit Erniedrigung -
Schuldbewusstsein? Es mag feindselig klingen, aber ich frage mich es oft - was
denken Übergewichtige über mich? Wir sind alle essgestört, aber wir tendieren
zu gegensätzlichen Extremen. Was denken sie über mich, welche Adjektive kommen
ihnen in den Sinn, wenn sie mich sehen? Was denken sie, was ich über sie denke?
Machen sie sich auch so viele Gedaken über ihr Erscheinungsbild vor
der
Opposition? Kreuzen Schimpfwörter, Lobesoden oder gar Neid oder Mitleid
ihre Gedanken? Es gibt ein Mädchen in unserer Gruppe, Emilia, bei der ich mich
das am Meisten frage. Sie ist fast 180kg schwer, berichtete sie uns am Anfang
in der Vorstellungsrunde. Somit die schwerste in unserer Runde, wenn man nach Volumen und Masse geht. Emilia's Augen
kann man, zwischen den Wülsten versunken, kaum erkennnen, aber ich bin mir fast
sicher, einmal einen Funken Kobaltblau zwischen den Schatten an einem
sonnigen Tag erkannt zu haben. Solche Dinge sind Banalitäten, Trivialitäten -
übrigens.
Ich habe über Emilia geschrieben, weil es ausgerechnt sie ist, die mich
heute fragt. Jede Woche sollen wir eine ernstgemeinte, aufrichtig interessierte
Frage an jemanden in der Gruppe stellen. Jeder soll einmal den Mund aufmachen,
und jeder soll einmal auf jeden zugehen. "Warum hat sich dein Freund Jo
umgebracht?", fragt sie. Ich blinzle und ziehe den Kopf zurück, nicht aus
Verlegenheit, sondern weil sich meine Zunge binnen einer Sekunde in Zement
verwandelt und die Statik meines Kopfes durcheinander bringt. Emilia scheint
die Frage so souverän geplant zu haben, dass es mich beeindruckt. Sie hat sich
gemerkt, dass einer meiner besten Freunde verstorben ist, sie hat sich Gedanken
gemacht über mich. Die korpulente Emilia, sie hat über
mich nachgedacht.
Ruhig sitzt sie da, wartet eine wohl formulierte Antwort ab, ihr Blick ehrlich,
nicht so sensationsgeil wie alle anderen.
Ich nicke und erhebe die Stimme. "Ich trug ein rotes Samtkleid. Ich
trug es den ganzen Tag lang schon, weil ich nach der Schule gleich zu Jo gehen
wollte. In der Schule nahmen wir in Mathe Stochastik durch, und ein Mädchen,
das an die Tafel musste und dessen Name ich nicht mehr weiß, hat in einem Bruch
mit einer Summe gekürzt. In Differenzen und Summen kürzen ja bekanntlich nur
die Dummen. Wir hatten auch keine weiße Kreide mehr, weshalb wir mit blauer
schrieben. Das Blau auf dem alten Dunkelgrün konnte man kaum lesen von meinem
Platz aus in der letzten Reihe. Nach der sechsten Stunde habe ich mich auf den
Weg zum Bahnhof gemacht und bin mit Lisa gelaufen, mit der ich eigentlich
nichts gemeinsam habe, aber sie hing mir plötzlich an den Fersen. Hat etwas vom
Weltuntergang gelabert und von Verschwörungstheorien und vom Buddhismus und von
magnetischen Strahlungen. Als wir über die Verkehrsinsel liefen, passierte uns
ein Mann mit lockigen Haaren und einem Golden Retriever, der mitten auf dem Weg
stehen blieb und seinen Haufen setzte. Der Mann ging einfach weiter, ohne es
weg zu machen. Lisa aß im Zug Babykarrotten oder wie man die nennt, und eine fiel in die Ritze der
Sitzbank, sie bemerkte es nicht einmal. Wir trennten uns bei dem
Bahnhofvorplatz, bei den Taxiständen, sie musste U-Bahn fahren und ich
Straßenbahn. Ich überlegte, zu laufen, rechnete die Kalorien durch, die ich
verbrauchen würde, wenn ich zu Fuß gehen würde. Aber da fuhr die Linie 4 ein
und ich stieg in der Buchenstraße aus, im Kompromiss mit mir selbst, zumindest
die Hälfte gefahren zu sein und die Hälfte zu Jo's Wohnung zu laufen. Ronnie
umarmte mich im Treppenhaus und machte mir ein Kompliment zu meiner Kette. Wir
setzten uns zusammen auf den Balkon mit Jo, rauchten und tranken Alkohol, wie
eigentlich jedes Mal, wenn wir bei ihm uns trafen. Jo sagte uns den Taucher von
Schiller auf. Der Taucher besteht aus 27 Strophen, 162 Versen und 1099 Wörten.
Jo konnte es auswendig aufsagen, und wenn man ihm eine Zahl sagte - zum
Beispiel 26 - dann sagte er dir, was das 26. Wort im Taucher war. Umgekehrt
konnte er dir aber auch sagen, welche Nummer ein Wort einnimmt, zum Beispiel
Klippe. Damit er nichts vergaß, wollte er immer, dass wir ihn abfragten beim
Rauchen, das war eine Tradition bei uns. Jo wusste nicht, welche Nummer das
Wort Strudel im Gedicht einnahm. Er zählte alle Wörter durch bis zur 26.
Strophe. Und noch einmal. Das war ihm seit Monaten, wenn gar noch nie passiert. Als später die Gäste kamen, unterhielt ich mich mit einigen und tanzte
mit einem Typen, als es zwölf schlug. Seine Beerdigung fand ein paar Tage
später statt." Stille.
Emilia traut sich zuerst, sie zu durchbrechen, die Stille. "Das
verstehe ich jetzt nicht." - "
Ich auch nicht. Das ist das
Problem." Trevor meldet sich zu Wort: "Soll das eine Metapher sein
oder was? Was hat ein scheißender Retriever damit zu tun? Willst du hier
Psuedo-Philosophin spielen?" - "Trevor! Ein bisschen sensibler,
bitte!", mahnt der Gruppenleiter. "Elena, was willst du uns damit
sagen? Erkläre es doch in eigenen Worten." - "
Ich verstehe es selbst
nicht. Für mich erschien diese Tat nicht schlüssiger als die anderen Glieder in
der Kette. Tut mir Leid." Ich schiebe den Stuhl zurück, verlasse den Raum,
werfe eine Zigarette in den Gulli, als mich ein Golden Retriever am Bein im
Vorbeigehen streift, und sage die letzte Strophe des Tauchers auf, denn mehr als eine
kann ich nicht.
"Meist reicht doch ein Lächeln zum Nichtaufgeben
Ich kann nichts aufheben"
Gipfelkreuz (Heisskalt)