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Bestehen

Zu beschreiben, was du für mich bist. Als würde ich erklären, wie Wasser schmeckt. Es ist so natürlich und selbstverständlich. Aber ich kann nicht ohne leben.
Vor mehr als einem Jahr haben wir uns unsere Namen erstmals in ein Händeschütteln verpackt. Namen in Küssen und Umarmungen folgten, und schließlich Namen in Liebesgestänndnisse verhüllt - in der Luft schwebend und nicht an gesellschaftliche oder anthropologische Verhaltensbilder geheftet. Wir führen eine nukleare Beziehung. Deine Sätze verfolgen mich bis in den Schlaf, selbst beim Schreiben peinigen sie mich, mit gleichem Maße Hartnäckigkeit wie Willkommen in Vollkommenheit. Kein Plan, wo ich bin, wenn ich nicht bei dir bin, denn bei mir bin ich nicht. Der Flieder im Sommer, der Frühlingshimmel, der Wasserfrost im Herbst und der Sonnenuntergang im Winter ziehen eine Fehde durch meine innere Uhr. Keine Blume kann ich mehr bertrachten, ohne an deine Augen zu denken. Selbst abends in tiefster Dunkelheit auf unserem Balkon, wenn die Lichter der Stadt erlischen, bist du mit höchster Klarheit zu erkennen. Bemühungen, nicht einzuschlafen, um dich nicht aus den Augen zu verlieren, unterliegen den Träumen von selbigen Anblick. Manchmal nimmt mich die Angst ein, ob du es so meinst, wenn dein IchLiebeDich verhallt. Ich werde ganz kleinmütig und errechne Wertigkeiten deiner Gesten, die in einer anderen Sprache Zuneigung ausdrücken: Deine Zeit, dein Geld, du teilst vieles mit mir, was mich impliziert. Doch Seelenverwandtschaft und Liebe finde ich nicht nicht in anderen Ausdrücken abseits des Nuklearkerns. Was besitze ich schon? Was kann ich ausspielen, um dich zu halten? Ein so berechtigterweise anspruchsvolles, wunderschönes Wesen. Und ein Monster, ein Körper, der nur als Laster zu beschreiben ist, und weder eine Überfülle an Vorzügen als Ausgleich, noch geistige Qualitäten, die eine Äquivalenz erlauben.
Manchmal habe ich Angst, dich zu verlieren, auch wenn wir wie Reaktoren miteinander ständig in Korrespondenz stehen. Was habe ich, um dich zu halten? Manchmal zweifle ich an mir und meinen vermeintlichen Reizen. Manchmal zweifle ich an der Liebe. Aber letzten Endes habe ich auch nicht mehr zu bieten als das, was ich suche.

Der Fuchs bittet den kleinen Prinzen, ihn zu zähmen. Der kleine Prinz weiß nicht, was das bedeutet. Der Fuchs erklärt es ihm: "Du bist für mich doch nichts als ein kleiner Knabe, der 100 Tausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht und du brauchst mich ebenso wenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der 100 Tausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt."

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Totenwache

Der Asphalt sieht aus dieser Perspektive aus wie schwarze Kristalle. Die Lichter der Stadt, für jemanden, der am Boden liegt, sind schon diese alltäglichen Fixpunkte die Sterne am Firmament, so unerreichbar erscheinen sie aus diesem Winkel. Wieder mit der Fresse auf dem Boden, wieder einmal gefallen. Gelbe Lichter aus der Stadt. Wir liegen hier am Boden, ja, wir zusammen, Jo. Doch als ich deine Hand greife, nur mein eigenes Erbrochenes. Erbrochenes heißt Blut. Blut bist du. Blut ist das Leben, und es zerrinnt zwischen meinen Fingern. Du bist schon vor mehr als einem Jahr versickert, und ausgerechnet jetzt spüre ich dich so nahe wie seit Langem nicht mehr, alles kocht wieder auf und kondensiert in Tränen unter meinen Lidern. 16 Staubschichten liegen auf deinen Fußabdrücken, jedes CO2-Teilchen, das du ausgeatmet hast, schon wieder umgewandelt. Die Welt geht weiter, ohne dich. Die Welt steht still, und Schreie hallen durch die Nacht, dein Name füllt den Raum, der fehlt, seitdem du
fehlst.

Kausalitätskette

10 Augenpaare starren mich an, akupunktieren mich mit Erniedrigung - Schuldbewusstsein? Es mag feindselig klingen, aber ich frage mich es oft - was denken Übergewichtige über mich? Wir sind alle essgestört, aber wir tendieren zu gegensätzlichen Extremen. Was denken sie über mich, welche Adjektive kommen ihnen in den Sinn, wenn sie mich sehen? Was denken sie, was ich über sie denke? Machen sie sich auch so viele Gedaken über ihr Erscheinungsbild vor der Opposition? Kreuzen Schimpfwörter, Lobesoden oder gar Neid oder Mitleid ihre Gedanken? Es gibt ein Mädchen in unserer Gruppe, Emilia, bei der ich mich das am Meisten frage. Sie ist fast 180kg schwer, berichtete sie uns am Anfang in der Vorstellungsrunde. Somit die schwerste in unserer Runde, wenn man nach Volumen und Masse geht. Emilia's Augen kann man, zwischen den Wülsten versunken, kaum erkennnen, aber ich bin mir fast sicher, einmal einen Funken Kobaltblau zwischen den Schatten  an einem sonnigen Tag erkannt zu haben. Solche Dinge sind Banalitäten, Trivialitäten - übrigens.
Ich habe über Emilia geschrieben, weil es ausgerechnt sie ist, die mich heute fragt. Jede Woche sollen wir eine ernstgemeinte, aufrichtig interessierte Frage an jemanden in der Gruppe stellen. Jeder soll einmal den Mund aufmachen, und jeder soll einmal auf jeden zugehen. "Warum hat sich dein Freund Jo umgebracht?", fragt sie. Ich blinzle und ziehe den Kopf zurück, nicht aus Verlegenheit, sondern weil sich meine Zunge binnen einer Sekunde in Zement verwandelt und die Statik meines Kopfes durcheinander bringt. Emilia scheint die Frage so souverän geplant zu haben, dass es mich beeindruckt. Sie hat sich gemerkt, dass einer meiner besten Freunde verstorben ist, sie hat sich Gedanken gemacht über mich. Die korpulente Emilia, sie hat über mich nachgedacht. Ruhig sitzt sie da, wartet eine wohl formulierte Antwort ab, ihr Blick ehrlich, nicht so sensationsgeil wie alle anderen.
Ich nicke und erhebe die Stimme. "Ich trug ein rotes Samtkleid. Ich trug es den ganzen Tag lang schon, weil ich nach der Schule gleich zu Jo gehen wollte. In der Schule nahmen wir in Mathe Stochastik durch, und ein Mädchen, das an die Tafel musste und dessen Name ich nicht mehr weiß, hat in einem Bruch mit einer Summe gekürzt. In Differenzen und Summen kürzen ja bekanntlich nur die Dummen. Wir hatten auch keine weiße Kreide mehr, weshalb wir mit blauer schrieben. Das Blau auf dem alten Dunkelgrün konnte man kaum lesen von meinem Platz aus in der letzten Reihe. Nach der sechsten Stunde habe ich mich auf den Weg zum Bahnhof gemacht und bin mit Lisa gelaufen, mit der ich eigentlich nichts gemeinsam habe, aber sie hing mir plötzlich an den Fersen. Hat etwas vom Weltuntergang gelabert und von Verschwörungstheorien und vom Buddhismus und von magnetischen Strahlungen. Als wir über die Verkehrsinsel liefen, passierte uns ein Mann mit lockigen Haaren und einem Golden Retriever, der mitten auf dem Weg stehen blieb und seinen Haufen setzte. Der Mann ging einfach weiter, ohne es weg zu machen. Lisa aß im Zug Babykarrotten oder wie man die nennt, und eine fiel in die Ritze der Sitzbank, sie bemerkte es nicht einmal. Wir trennten uns bei dem Bahnhofvorplatz, bei den Taxiständen, sie musste U-Bahn fahren und ich Straßenbahn. Ich überlegte, zu laufen, rechnete die Kalorien durch, die ich verbrauchen würde, wenn ich zu Fuß gehen würde. Aber da fuhr die Linie 4 ein und ich stieg in der Buchenstraße aus, im Kompromiss mit mir selbst, zumindest die Hälfte gefahren zu sein und die Hälfte zu Jo's Wohnung zu laufen. Ronnie umarmte mich im Treppenhaus und machte mir ein Kompliment zu meiner Kette. Wir setzten uns zusammen auf den Balkon mit Jo, rauchten und tranken Alkohol, wie eigentlich jedes Mal, wenn wir bei ihm uns trafen. Jo sagte uns den Taucher von Schiller auf. Der Taucher besteht aus 27 Strophen, 162 Versen und 1099 Wörten. Jo konnte es auswendig aufsagen, und  wenn man ihm eine Zahl sagte - zum Beispiel 26 - dann sagte er dir, was das 26. Wort im Taucher war. Umgekehrt konnte er dir aber auch sagen, welche Nummer ein Wort einnimmt, zum Beispiel Klippe. Damit er nichts vergaß, wollte er immer, dass wir ihn abfragten beim Rauchen, das war eine Tradition bei uns. Jo wusste nicht, welche Nummer das Wort Strudel im Gedicht einnahm. Er zählte alle Wörter durch bis zur 26. Strophe. Und noch einmal. Das war ihm seit Monaten, wenn gar noch nie passiert. Als später die Gäste kamen, unterhielt ich mich mit einigen und tanzte mit einem Typen, als es zwölf schlug. Seine Beerdigung fand ein paar Tage später statt." Stille.
Emilia traut sich zuerst, sie zu durchbrechen, die Stille. "Das verstehe ich jetzt nicht." - "Ich auch nicht. Das ist das Problem." Trevor meldet sich zu Wort: "Soll das eine Metapher sein oder was? Was hat ein scheißender Retriever damit zu tun? Willst du hier Psuedo-Philosophin spielen?" - "Trevor! Ein bisschen sensibler, bitte!", mahnt der Gruppenleiter. "Elena, was willst du uns damit sagen? Erkläre es doch in eigenen Worten." - "Ich verstehe es selbst nicht. Für mich erschien diese Tat nicht schlüssiger als die anderen Glieder in der Kette. Tut mir Leid." Ich schiebe den Stuhl zurück, verlasse den Raum, werfe eine Zigarette in den Gulli, als mich ein Golden Retriever am Bein im Vorbeigehen streift, und sage die letzte Strophe des Tauchers auf, denn mehr als eine kann ich nicht.

 "Meist reicht doch ein Lächeln zum Nichtaufgeben
Ich kann nichts aufheben"
Gipfelkreuz (Heisskalt)