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Infinitely Hungry

Ich aß mein Eis immer warm. Kein Akt der mikroskopischen Rebellion, ich mochte es einfach warm. Ich mochte den Geschmack von schmelzender Solidität. Einfach zu wissen, dass etwas ganz ist und man es verformen kann, in etwas größeres, ohne es zu zerbrechen, dieser Gedanke gefiel mir. Ich mochte warmes Eis, denn der Winter in mir stieg im Sommer auf. Ich habe es über dem Feuer schmelzen lassen, und eines Tages, als ich das tat, trat etwas ein, das mich alles vergessen ließ und das Eis in meiner Hand verdampfte. Ich frage mich oft, wann der Tag eingetroffen war, an dem ich kein Eis mehr mochte. Wann dieses Etwas eintrat, das Überhand von mir nahm. Ich verbrenne Kalorien nicht mehr aus Spaß oder Genuss, sondern aus Zwang. Ich kann mich an keinen Zeitpunkt erinnern, in dem ich sagte "Ich höre jetzt auf zu essen". Es kam nicht plötzlich,  unerwartet von hinten, sondern kroch langsam in mich hinein. Im Französischen sagt man j'ai faim. Ich bin Hunger. Wir Deutschen haben bloß Hunger, es ist unlogisch, denn irgendwann wird man zum leibhaftigen Hunger. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, warum ich aufgehört habe zu essen. Es macht mich fertig, dass es so sinnlos erscheint, dieser radikale Entschluss. Ich kann mich an keinen Grund erinnern. Irgendwann war ich es einfach. Und jedes Mal, wenn ich versuche, es aus mir heraus zu schneiden, schneide ich auch einen Teil von mir heraus, verstümmle mich selbst und liege noch Wochen danach blutend und kraftlos am Boden. Partieller Selbstmord.

Untitled

Als ich kleiner war, gingen meine Mutter und ich oft spazieren. Unsere sonntäglichen Spaziergänge waren die einzigen Zeitpunkte der Woche, die meine Mutter in der Menge ihrer Arbeit finden konnte, um sie mir zu widmen. Ich klammerte mich jedes Mal an ihrem Arm fest, als könnten uns die kleinen Windböen, die durch die Bäume über den See tanzten, auseinanderreißen. Ich klammerte mich an ihren Arm, so wie ich mich die ganze Woche an diese Spaziergänge klammerte. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Ich lernte laufen auf unserer Route, und ich lernte zählen, ich lernte sprechen. Meine Mutter wollte immer, dass ich die Nähe zur Natur bewahrte, legte Wert darauf, dass ich die Kräuter und Pflanzen alle genau benennen konnte: Schöllkraut, Herbst-Zeitlose, Heidenelke, Brillenschötchen, Gemeine Quecke, Mispel... Aber ich hatte eine ganz eigene Sprache und Art, die Dinge beim Namen zu nennen. Explosionen im Himmel, schimmernde Mondsicheln im Wasser, Kinder des Waldes. Das Wasser faszinierte mich besonders. Auf der Oberfläche entstanden immer die wildesten Schauspiele, die ich mir nur vorstellen konnte. Eines Tages sah ich wie ein geschwungender, erhabener Hals aus einem weißen Federkleid heraus ragte und bliebt mit gestockten Atem stehen. Die Flügel weiteten sich aus und schlugen mit gewaltiger Kraft auf der Wasseroberfläche auf. Es hob sich in einer Krone aus Wassertropfen aus dem Wasser heraus in die Lüfte. Schwan, sagte meine Mutter, auf mich herabblickend, wie ich, den Kopf in den Nacken gelegt, dem majestätischem Tier auf seiner Flugbahn hinterherblickte. Aber dieses Wort befriedigte mich nicht, es beschrieb nicht die Ausstrahlung dieses Geschöpfes, und auch nicht die Magie des Momentes, nicht die Kraft der schlagenden Flügel, nicht das großartige Gefühl, das sich in mir breit machte, und vor allem nicht die Sehnsucht nach diesem Tier. Beim Anblick gab es einen Kurzschluss in mir, ein Impuls, dessen Ausmaße ich nicht in Worte fassen konnte; ein Verlangen, von diesem Tier zu sprechen und diese Ausmaße auszudrücken. Wenn Worte meine Sprache wären, dann hätte ich mich mit dem Wort Schwan zufrieden gegeben. Aber das Wort Schwan sagte nichts über über die weißen Feder aus, die aus den Poren dieses Tieres wuchsen, und auch nichts über die Explosivität seiner Bewegungen, die langsamen Schläge seiner Flügel.
Der Himmel und der Schwan wurden zu einer Einheit, ich rang nach Worten, die beschrieben, was er für mich bedeutete. Schwan, flüsterte ich immer wieder innerlich vor mich hin, leise, um Raum für eine andere Definition zu finden. Ich spürte ein Zwicken, ein ziehen, eine Unzufriedenheit mit diesem Wort, aber nicht nur für dieses Wort, sondern auch für all diese Nachahmungen der Struktur und Form und Farbe in Lettern und Tönen, die Bäume, den Himmel, die Wolken, die Sonne, Wärme, Liebe, Familie, und der Unendlichkeit.

Schmetterlings-Effekt

Es waren ganz ganz viele Leute auf den Straßen. Flohmarkt in der Innenstadt von Nürnberg. Ich wollte auch ein bisschen herum schauen, hatte mich mit Ronnie und Sina an der Lorenzkirche verabredet. Es war seit langem mal wieder ein freier Samstag für mich, schon alleine meine Einstellung beim Aufstehen wirkte wie Urlaub. Gedanken können befreien, das merkte ich mehr denn je. Es schien ein bisschen die Sonne und ich  genoss die spärlichen Sonnenstrahlen auf meinem Rücken. Sie versprachen Lust auf mehr. Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zur Kirche entdeckte ich einen Obdachlosen auf einem der viereckigen Mülleimer sitzen. Ich blieb stehen, so sehr faszinierte mich dieses Bild. Er saß mit dem Rücken gegen den Strom der Menge, die sich konstant weiterbewegte. Wie ein Fels in der Brandung. Auf seinem Rücken stand mit grell-gelber Schrift: Fuck you all. Kurz überlegte ich, ob ich die Kamera zücken sollte und den Moment festhalten sollte, in Schwarz-weiß wäre es ein wunderschönes Bild, dachte ich mir. Aber ich ging weiter. Sollte ich umdrehen, fragte ich mich immer wieder. Plötzlich riss mich jemand aus meinen Gedanken. Ein Hi gab mir von links einen Seitenhieb. Ein How are you? bohrte sich in die frische Wunde. I'm fine. And you? fragte ich zurück. Wir hielten Smalltalk im Gehen. Er wollte einen Kaffee mit mir trinken. No, sorry, I'm gonna meet friends here. They should be here in a few minutes. Er wollte mit mir am Tag darauf einen Kaffee trinken. No sorry, tomorrow I will go to the Tattoo Convention. Er wollte wissen, ob ich Single bin. No, I've got a boyfriend, stotterte ich, was meine Authentizität in diesem Moment schlimmer verzerrte als jede Lüge. Er wollte mich besser kennen lernen. My boyfriend would be very upset if I talked with you. Er wollte meine Nummer haben. Give me your number and I will decide if and when I call you. Meine Stimme wurde immer zittriger. Dieser Mann hatte eine unglaublich dunkle Ausstrahlung, so gefährlich und einschüchternd. Mit seiner Hartnäckigkeit trieb er mich immer mehr in die Enge und schließlich wollte ich ihn einfach nur noch los werden. Ich speicherte seine Nummer ein, mit dem Gedanken, sie gleich danach zu löschen. Er wollte, dass ich ihn anrufe, um zu sehen, ob die Nummer richtig sei. Meine Synapsen reagierten nicht schnell genug. Im nächsten Moment erstellte er schon einen neuen Kontakt mit meiner Rufnummer. Mein Herz schlug schneller. Ein Szenario schoss mir sofort in den Kopf. Er würde anrufen. Er hat meine Nummer. Ihm ist es möglich, Kontakt zu mir aufzubauen. Ronnie und Sina standen auf einmal neben uns. These are the friends I told you I was waiting for. Ich umarmte beide und Ronnie schien sofort zu kapieren, was los war. Sie musterte den Typen, der sich mir als Thomas vorgestellt hatte, und würfelte einen Satz in ihrem gebrochenen Englisch hin, dass wir uns beeilen müssten. Thomas gab mir seine Hand und flüsterte lächelnd See you soon. Ich verschluckte mich an der Luft und sagte nichts, sondern ließ mich nur von Ronnie weg ziehen. Ich hatte für die nächsten Stunden ständig das Gefühl, beobachtet zu werden und an jeder Hausecke schien mir das gruselige Lächeln von Thomas zu begegnen. Es war wohl nicht aushaltbar mit mir. Ich verabschiedete mich viel früher als geplant von Ronnie und Sina und machte mich auf zum Bahnhof. ich wollte nur noch heim. Kurz vor der Unterführung zum Bahnhof saß dort ein Mann, den Rücken zu mir gedreht, sodass ich die grell-gelben Lettern schon von weitem entziffern konnte: Fuck you all. Und ich fragte mich, ob die halbe Minute, die ich gebraucht hätte, meine Kamera aus der Tasche zu ziehen, den Fokus auf den Rücken dieses Obdachlosen zu richten, abzudrücken und die Kamera im Laufen wieder einzustecken - ich fragte mich, ob diese halbe Minute verhindert hätte, dass ich Thomas begegnet wäre. 
Heute Morgen stieg ich aus dem Bett und sah 12 neue Nachrichten auf meinem Handy-Display erscheinen: Eine von meinem Freund und eine von Ronnie, die sich Sorgen machte, warum ich es gestern so eilig gehabt hatte, zu verschwinden. Und 10 Nachrichten von Thomas. 4 Anrufe seit heute Morgen. 16 SMS. Ich habe das Haus nicht verlassen. Bin nicht auf die Tattoo-Convention. Habe Jules abgesagt und mich zu Haus verbarrikadiert. Gedanken können befreien, aber sie können auch den Körper und Geist einkesseln. Und Paranoia wird plötzlich eine Behinderung.

Palindrome

eine Kurzgeschichte in Bildern