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If anybody ever asks us, let's just tell them that we met in jail

Wenn meine Freunde uns fragen, wie wir uns kennen gelernt haben, sagen wir immer, dass wir uns an Schieles Grab kennengelernt haben. Das entspricht nicht der hundertprozentigen Wahrheit, aber einer sehr hochprozentigen, weil Sam und ich nur dann einvernehmlich Anekdoten erzählen können, wenn mindestenes einer von uns betrunken ist. Wir beide teilen die sadistische Genugtuung, wenn andere für das Stellen dieser trügerische Frage bestraft werden. Und außerdem erweckt es den Anschein, dass uns irgendeine schicksalslastige Kraft verbinde. Aber eigentlich, wenn wir ehrlich sind, saß ich heulend vor dem Grab eines Künstlers, der seit 98 Jahren tot ist, mitten in Ober St. Veit und Sam pflückte Blumen von fremden Gräbern, um sie auf das seiner Großmutter zu legen. Er fragte mich, ob die Sonnenblumen auf Schieles Grab von mir seien, oder ob er sie haben dürfe. Es war diese unverblümte Dreistigkeit, die ich auf eine mindestens genauso pietätlose Weise bewunderte und gleichzeitig verabscheute. Catulls Carmen 85 bildete mit seinem Leitvers Odi et amo schon immer unfreiwillig die Zielgerade für jede meiner Beziehungen. Bei Sam überwiegt der Odi-Part jedoch mehr, und führt nahtlos zu fieri et excrucior.
Sam spricht die Dinge aus, die ihm im Kopf herumschwirren. Das mag dreist sein, oder respektlos oder naiv, aber besonders die spontane, impulsive und buchstäblich leichtsinnige Komponente der schonungslosen Ehrlichkeit, die seinen Charakter zu größten Teilen ausmacht, führt mich regelmäßig in Situationen, die so untypisch für mich selbst sind und mich somit von mir selbst entfernen. Dieser Freiheitssinn überkam mich ebenso an Schieles Grab, den mein Lieblingskünstler in gewisser Weise auch wiederspiegelt. Sam kennt Schiele - ein Schicksal, um das man nicht herum kommt, wenn man in Klosterneuburg aufgewachsen ist - und er mag ihn mehr als Klimt. "Weil er malt und zeichnet, wie ihm das Maul gewachsen ist.", hat er dann an diesem Grab gesagt. "Schiele malt wie er spricht, weil er nicht illustriert oder karikuriert, er drückt sich einfach aus in einer eigenen Formsprache. Klimt hingegen kandiert alles mit seiner Niedertracht, golden gefallen zu wollen, oder pornografisch zu provozieren." Diese Äußerung von Sam weckte bei mir damals den Eindruck, er hätte eine Ahnung von Kunst. Oder gar eine Meinung.
In Krimis heißt es doch immer, man flieht nur, wenn man schuldig ist.