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Blog-Archiv

21.12

Sein Geruch war drei Tage länger bei mir, als er. Dann roch ich nur noch Stoffgewebe seiner Hemden, die ich mir an die Nase zu pressen pflegte, um die Essenz seiner Existenz noch einmal vor Augen zu rufen. Ich saß auf dem Sofa, zog kurze Haare aus den Zwischenritzen der Polster, die er dort hinterlassen hatte, und versuchte mich zu entsinnen, welche Zahl besagte, wie lange es dauerte, bis menschliches Haar verrottet. Und ein menschlicher Körper. Ich rief sein Handy tausendmal an, hörte mir die Anrufbeantworteransage an, denn er hob ja nicht ab. Eines Tages waren nicht mehr die letzten festgehaltenen audialen Rudimente eines Lebens am anderen Ende zu hören, sondern ein Roboter, der mir erklärte, dass dieser Anschluss nicht mehr existierte. Das Nichtmehrexistieren, das Sterben, das Nichtmehrleben, das Totsein.
Die Stille in der Leitung war wie die taube Sekunde der Detonation vor der Explosion.
Ich hatte die letzte Sekunde seines Lebens gesehen, wie er fast mit einer schwebenden Leichtigkeit über die Schwelle gesprungen war, wie einst über die Zäune zu verbotenen Gebäuden, um dort nackt zu baden oder Graffiti zu sprühen. Es ist nicht wie in beschissenen romantischen Szenen in Filmen, keine poetischen letzten Worte, nur der hochkonzentrierte Moment, mit all den Nebenwirkungen und dem Kater danach. Es ist rein gar nichts. Du kannst nicht laufen, nicht essen, nicht trinken, nicht sprechen.
Es gab glühend heißes Sommerlicht an der Beerdigung, obwohl er im Winter gestorben war. Ich hatte mir nicht die Sonne gewünscht, Jo mochte den Regen und die Nacht. Es wurde gnadenlos von jedem noch so grausamen Detail reflektiert und zurückgeworfen. Von den goldenen Beschlägen und dem Hochglanzlack der Urne; vom billigen, weißen Nylonkragen von Peter; von Izzy's hochpolierter Glatze... Es verbrannte mich, fraß mich von innen auf und trieb meine Asche im selben Wind davon, wie seine.

Illysium

Schriftstellerin, diese Phrase schrieb ich als Kind oft auf die Zeile in Freundschaftsbüchern nach Das will ich mal werden, wobei nicht einmal ich selbst weiß, inwiefern das mehr oder weniger realistisch und greifbar für mich war als Astronaut oder Rockstar. Dabei war Schriftstellerin nur die logische Konsequenz aus meiner Passion, die ich für das Schreiben hegte. Schon immer ein Zufluchtsort, ein Ventil, das man zuschrauben und mit eigener Kraft regulieren kann, eine Mögichkeit, das Ungreifbare an die Oberfläche zu transportieren, den verworrenen und unverständlichen Emotionen- und Gedankenkataklysmus auf Papier zu extrahieren. Wie ein Katalysator, und die Essenz blieb mein natürliches Wesen, mein wahres Ich, dem ich für den Bruchteil einer Sekunde ins Antlitz blicken konnte, sobald ich es ausformuliert hatte. Vielleicht auch nur eine Illusion, ein vermeintliches Entfliehen vor der Wirklichkeit, denn es offenbarten sich Wunden und das Papier wurde zum Schlachtfeld. Jetzt, knapp 10 Jahre nach dem Verfassen meiner Tagebücher blicke ich auf ein Schlachtfeld, ein Blutbad  in Buchstaben, nur für Soldaten dekodierbar, zwischen den Zeilen ein SOS in die unerhörte Stille. Eigentlich weder Illusion, noch Elysium. Nur das Verschleiern der Tatsachen mit der kindlicher Polarisierung, dem Streben nach Poesie und zwischen Eden, Jenseits, Paradies und Elysium das Armageddon.
Letzten Endes war es wirklich immer nur ein Zufluchtsort. Eine Flucht vor dem Geschehen, denn das Schreiben verändert keine Geschehnisse oder Umstände. Es macht sie weder schöner, noch schlimmer, es verzerrt nur die eigene Sicht auf sie. Ich für meinen Teil abstrahiere nicht, ich subtrahiere und dividiere, aber die Rechnung geht trotzdem nie auf, denn sie ist durch meine eigenen Empfindungen getrübt und manipuliert. Ich produziere, reproduziere nicht, imitiere. Wie Sternbilder malen, wie Malen nach Zahlen, aber du veränderst die Legende, setzt Punkt, Komma und Semikolon an anderen Stellen, hebst besondere Stellen hervor, in denen du sie überhaupt erwähnst oder in einer anderen Farbatmosphäre widergibst. Über das Grau meiner Stimmung lege ich einen Hauch von rosaroter Stimmung und schon stehe ich an anderer Stelle, sehe mit anderen Augen, fühle mit anderen Fingern und höre mit anderen Ohren, schlüpfe in eine andere Haut, manipuliere mich selbst, belüge mich und flüchte vor mir selbst.

Wunder-bar-ometer

Der Hauptbahnhof ist gesperrt wegen Bombenentladung, es fahren keine Züge, also besser 6 Stationen laufen, als soziale Konflikte beiseite zu schieben und zu fragen. Noch immer kein Auto gekauft, noch immer nicht fähig, mir eine eigene Wohnung zu leisten, weil ich bei inzwischen zwei Nebenjobs neben der Schule, die mittlerweile täglich bis 17Uhr dauert, mir den Arsch abarbeite, nur um nach Hause zu kommen und mir Vorwürfe anhören zu können, warum ich in all diesem Stress vergessen hätte, ein Mittagessen zu mir zu nehmen. Ich bin nicht dort, wo ich sein wollte mit 18, ich bin nicht dort, wo ich mich vor einem Jahr sehen wollte, und erst recht nicht dort, wo ich mich mit 6 Jahren gesehen habe. Frei von Menschen, ohne Abhängigkeiten, ohne  Materialismus, an den ich indirekt gekoppelt bin, frei von eigenen Komplexen. Mit sich im Reinen sein, warum heißt das so, wenn es doch nichts mit Reinheit zu tun hat? Ausgewogen, nein, bei jedem Wort, das auch nur im Entferntesten mit wiegen etwas zu tun hat, hebt es mich.
Diese Wunder, die einem jeden Tag wiederfahren, diese latenten Sonnenstrahlen an wolkenbedeckten Tagen, die trotzdem keine Nacht sind, doch es fällt niemandem auf. Trotzdem machen sie uns unruhig und lassen das Vitamin D durch unseren Kreisauf schnellen, lassen uns jede Sekunde zählen, jede Minute schätzen und jede Stunde vermerken - sei es nun die bare Erinnerung oder ein tagebuch oder ein Blog. Augenblicke auf Netzhaut gebrannt, Berührungen auf Haut tätowiert, Bruchstücke, ber in ihrer Unvollkommenheit doch so wertvoll, und zu mehr antreibend. Mehr, es macht süchtig. Mit geschwollener Brust über der Welt stehen, über Grenzen springen und lachen, bis es den Donner übertönt. Aber du kannst sie nicht messen, sie nicht vergleichen, diese Wunder. Du kannst sie nur erfassen in diesem Moment, in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer Sensation und Stärke. Du kannst sie nicht vergleichen, weil sie nie gleichzeitig passieren.
Der Geruch von Explosivität sollte öfter in der Luft liegen, sie sollten öfter Bomben aus dem 2. Weltkrieg entschärfen, die halbe Stadt evakuieren und die Infrastruktur still legen, die Rotation für eine Sekunde der Detonation anhalten und inne halten. Sie sollten Menschen öfter auf eine Reise von 6 Bahnstationen schicken.