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Zeugenschutzprogramm

Gestern verstarb eine Freundin von mir, 17 Jahre alt und von der Leukämie zerfressen. Wie es sich wohl anfühlen muss, wenn das Blut, das schon seit Jahrhunderten das Leben bedeutet, sich in das persönliche Sinnbild für den puren Tod verwandelt. Wie muss es sich anfühlen, wenn du dir vorstellst, dass hochkonzentrierte Säure durch deine Adern fließt, die dich mit der Zeit dahinrafft. Wie muss es sich anfühlen, wenn du dir wünsch, ausgesaugt zu werden, einmal ausgewechselt und generalüberholt. Das Blut, repräsentativ für das Ableben.
Sie hat sich abartig gefühlt, sagte sie einmal. Niemand solle sie anfassen, sagte sie. Sie fühlte sich wie von Parasiten befallen. Vielleicht existieren Tod und Leben in einer ständigen Symbiose miteinander, der Tod oder der Krebs sind keine Parasiten, sie gehen Hand in Hand. Hunderte Leute haben es immer so formuliert, dass es kein Licht ohne Schatten geben kann. Aber warum diese Abhängigkeit?
"War das so erleichternd, wie du meintest, oder war das Nichtmehrleben doch noch weit vom Totsein?" 
Rilke, Für Wolf Graf von Kalckreuth, Requiem.
Ich bin müde, Menschen los lassen zu müssen, sie aus meinen Arme reißen zu lassen, ihnen allen einen Post zu widmen, virtuelle Asche in Pixeln zu verstreuen; warum ziehe ich den Tod mit mir herum wie einen Schleier, der meine Realität in Sonnenstunden filtert und verschwimmen lässt? Warum sterben sie alle? Ich frage mich Phrasen der Fairness und Gerechtigkeit, aber das letzte Gericht richtet immer nur deinen Nächsten, und du wünschst dir, du könntest diesen Fluch von ihnen nehmen und dich dem Richter hingeben; diesmal ohne Freispruch.

Die Welt ist eine Scheibe, spring über den Rand

Meine Mutter fuhr einmal ein Reh an, rief den Jäger an, damit er ihn schnell mit einen Schuss aus den Schmerzen reißen konnte. Ich meinte zu sehen, dass es weinte, das Reh. Der Tod, er muss friedlich sein, denn der Schmerz ist etwas irdisches. Man wird zerbrechlich, Lebenskräfte vereinen sich und treten gemeinsam über die Schwelle, ein spirituell aufgeladener Moment, so heißt es immer. Wie werde ich sterben? 
Ich habe es mich oft gefragt.
Nie älter als 27 werden, das war mein Ziel und ist es in geheimen Ecken meines Seins immer noch. Vielleicht kein Ziel, eher eine Angst.
In einem weißes, unschuldigem Kleid, ohne Blutvergießen, und mit einem großem Schrei, so wie es angefangen hat. Ich gieße mir ein Glas Rum ein. Ein verziertes Glas mit Wänden wie Kristallen, in denen sich morgens Prismen bilden und selbst Wasser so psychodelisch wirkt, wie das Cover von Pink Floyd; wie ein russisches Ornament oder ein Kaleidoskop. Halb voll und halb leer, ich schenke lieber noch einmal nach. Rum. Rum, der im Halse brennt; nein, kein Rum. Ich gieße mir keinen Rum ein. Wein. Nein, keinen Wein. Unscheinbaren Wodka. Nein, keinen Wodka. Ob Alkohol den Tod oder den Weg dorthin beeinflusst? Torkelt man dann genauso unkorrdiniert über die Schwelle wie jeden Sonntagmorgen über die des provisorischen Eigenheims? Macht Alkohol die Reise erträglicher? Desinfiziert er die Wunden in mir? Betäubt er? Reset. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein. In das Pink Floyd-Glas. Nachschenken. Flasche an die Tischkante stellen.
Ich reihe die Tabletten nebeneinander auf, sortiere sie nach Farbe, Form, Größe, Gewicht. Ein Regenbogen. Wie Tetris staple ich das reiche Spektrum an Sedativa, Narkotika, Stimulantia, Psychodelika, Amphetaminen, Opiaten und Opioiden, die alle die Sterne vor den Augen vielfältig ausmalen, sorgfältig vor mir mit gleichen Abständen zueinander aufeinander, nur um sie danach mit einer Handbewegung auf einen Haufen zu räumen, in meine Handfläche zu legen, und zum Mund zu führen. Auf einmal stopfe ich sie mir in den Mund, spüle sie mit dem brennenden Wasser die Kehle herunter. Nein, nein, reset. Ctrl + A + Delete. Ich will nach den Sternen greifen,  ich will sie mir auf der Zunge zergehen lassen, einzeln, die Dosis durch mein Knochenmark prickeln hören, bis es alles verätzt ist. Mit jedem Zug schlucke ich einen Teil meines Selbst herunter. Während ich die zweite Tablette fast mechanisch auf die gereizten Knospen meiner Zunger lege, überlege ich. Sie bleibt am Gaumen hängen, rutscht unter das Schmeckorgan, löst sich auf wie ein Brausebonbon vom Rummel. Keine Zuckerwatte für mich, nur Bitterkeit, und bitter schmeckt der Wodka. Ein anderes Bitter, als die Bonbons aus meiner Erinnerung. Ich schreite zum Schriebtisch und ziehe ein leeres Blatt Papier heraus. "Liebe Mom. None of this is your fault." Ctrl + Delete.
Ich nehme noch eine Tablette, führe sie zum Mund und spüle sie sofort herunter. "I never thought I'd die alone. Another 6 months I'll be unknown" Ich drehe lauter auf, der Nachbar hämmert an die Wand, die uns trennt. Immer lauter, schalte ihn aus und das Dröhnen und Ringen in meinen Ohren, das Pochen des Bluts in meinem Kopf. Bis das Blut gerinnt und tanzt. Will ich riskieren, dass er mich frühzeitig findet und abhält? Ich nehme zwei Tabletten auf einmal. Zurück zum Schreibtisch. "Dear Jules," Eine Träne rollt über meine blutleere Wange. "You opened closed doors and you turned up the volume of my heartbeat. I'm sorry." Schriftgröße 64↑ "SORRY"
Noch 5 Tabletten und den Rest des Wodkas. Ein Krachen, die Pforte öffnet sich. Doch hinaus kommt kein Engel gestürmt, sondern der Nachbar.

Inspiration oder Kopievorlage

√Roots

Heimat ist...
... "da, wo man sich aufhängt" - Thomas Bernhard
... where your heart is
... ein Fragebogen von Max Frisch {Derselbe Autor, der einen Protagonisten erschuf, der Brandstifter dessen Hab und Gut hat abfackeln lassen}
... kein Ort, sondern ein Gefühl
... nicht das Ziel, sondern der Weg
... der Himmel
... und war und wird

Der Fischer nebenan schleuderte jeden Morgen eine Schaufel Nichts mit einer schwungvollen Armbewegung auf den Teich. Er hatte nur zwei Teiche und keine Angestellte, keine Familie und saß deshalb an Weihnachten bei uns. Die Fische tanzten an der Wasseroberfläche, runde Münder schnappten nach dem unsichtbaren Futter, das beim Auftreffen auf der Wasseroberfläche plötzlich sichtbar wurde. Ich wachte jeden Morgen vom Gebrüll seines Hahns auf, und ich nahm es ihm nicht übel. Die Sonne reflektierte sich im Raureif auf den Feldern und erweckte den Tag. Dort, wo ich her komme, das ist ein Landstrich mit Bergen und Touristen, die auf eigene Faust die Berge bezwingen, denn dieser Ort symbolisiert Freiheit, und da hat man keine Reiseleiter. Unser 200-Seelen-Dorf war von einer natürlichen Vegetationspalisade aus Bergen eingekesselt, und ein kleiner Fluss schlängelte sich durch das Tal, das nach ihm benannt wurde. Es dauerte 20 Minuten, um zum nächsten Bahnhof zu kommen. Man trat seine Zigarette aus um Feldbrände zu vermeiden. Bräune zeugte nicht von Modebewusstsein oder Ästhetik. Graffitis an der einzigen Bushaltestelle im Radius von 30km waren der einzige Bestandteil an moderner Selbstzerstörung dieser Gemeinschaft. Die Kühe waren braun und schwarz gefleckt, nicht lila. Und jeden Abend setzte man sich auf den Fenstersims und wettete, welches Wetter es am nächsten Tag geben würde. Der Sternenhimmel war kein Wandplakat vom Karstadt und Sterne waren Wegweiser, wenn man sich verirrte. Der Geachtetste war nicht der Mann, der sich dem Schlund des Bildungssystems mit dem höchsten NC entwinden konnte, sondern der Dorfälteste, der sogar noch die alte Lide am Dorfbrunnen als Samen in Erinnerung hatte, sowie all die biblischen Geschichten und Mythen um wandernde Passanten, die in Wahrheit Heilige gewesen sein sollen.  Und die kleine Kirche und deren Pfarrer waren das Zentrum allen Lebens. Jeder wusste alles von jedem. "Weißt du schon das Neuste" war unvermeidbar, und wenn man das Neuste noch nicht wusste, wusste man es kurz danach. Nur eines, das wussten sie alle nicht. Der Mythos von Kindesmisshandlung war keine Großstadtpsychose, und die Frau vom Kirchenvorstand, sie nahm sich Jesu' Blut auch ohne Oblaten an.
Ich lernte laufen und sprechen, bevor ich dachte - das taten andere für mich. Ich wache auf und denke an Kriege zurück, die nicht waren. Ich sitze im Alter von 17 Jahren im Zug und lese Rotkäppchen und der böse Wolf, und Schneewittchen und all die Märchen, die mich an das Gute glauben lassen, das mir einst vorbehalten war. All die ersten Male, an ihnen fokussierte ich das Weltbild, und jetzt dreht sich alles nur noch um die letzten Male.

"Beim Kind versucht der Körper, sich an den Füßen zu orientieren. 
Beim Erwachsenen versuchen die Füße sich am Körper zu orientieren."
aus 'Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson'