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Besumni Bolnoi Merski

Sanft legt er mir die Arme in den Nacken, zieht sie unschudlig an sich und hält dem Druck stand, dem ich ihm entgegenbringe. Ich bin nicht sehr gut aufgelegt, wenn mir ein Treffen mit meiner Mutter bevorsteht. Dieses ist das zweite in diesem Monat, dank der festlichen Aktivitäten, und das ist nicht gesund. So verklemmt, wie ich bin, kann ich nicht einmal den Kopf zur Seite drehen, als er mit ersehnter Zärtlichkeit mit seinen Finger in anatomischer Linie den Kieferknochen hinauf zum Wangenknochen folgt, wo sie in angelegtem Winkel meine Wange streicheln. Wie ein Reh blicke ich auf zu ihm in seine blauen, vertrauten Augen, eingerahmt von den definierten Linien seiner Augenbrauen. Seine Lippen sind zu geschwungenen und in verwunschener Statik, um einem Mann zu gehören, doch die harten, eckigen Erhebungen seiner Gesichtsknochen hätten sonst auch viel zu maskulin gewirkt. Dies entkräftigt es zwar nicht, besänftigt aber das Gesamtbild. Sowieso ist der Kontrast in seiner männlichen Schönheit viel zu bestimmt, um es unausgeglichen wirken zu lassen. Die dicken schwarzen, schulterlangen Haare bilden den perfekten Gegenpol zu dem schmalen, länglichem Gesicht. Er ist so sportlich, athletisch, ich komme mir wie ein Gespenst vor, wenn ich vor ihm stehe, in meiner eigenen Haut verschwindend. Aber er lässt mich nicht meinen Selbstzweifeln widmen, er streichelt sanft über mein schneekandiertes Gewand, welches durch vereinzelte Einschnitte aus seiner samtenen Eleganz und Einheit gerissen wird. Er fragt nicht, warum ich mich selbst zerstöre, er fragt nichts, sondern nimmt es hin. Eine Sache, die ich an ihm liebe, weil ich mir über andere Dinge den Kopf zerbrechen kann, und bei ihm vollkommen sein kann, ganz ohne gebrochenen Kopf. Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht hinters Ohr. Es treibt mir einen warmen Schauer über den Rücken. Ich strahle ihn einmal breit an, dann drücke ich ihn mit meinen Händen an seiner Brust weg. Fast hätte ich vergessen, warum ich gerade eben noch kälter als die Außentemperatur gewesen bin. "Bist du sicher, dass du meine Mutter kennen lernen möchtest?" Er hebt verwundert die Augenbrauen, was die Schönheit des Gesamtbildes keinesfalls zersprengt. In Anbetracht der Tatsache, dass er im Kontext mit meiner Mutter das Recht hätte, im Dreieck zu springen, ist seine Reaktion nicht der Rede wert. "Ich dachte, das haben wir schon längst besprochen?", sagt er mit einer seelischen Ruhe, die ansteckend ist. "Okay.", sage ich lächelnd. "Aber bereite dich auf eine Horrorshow vor, wie sie im Buche steht." - "Horoscho bedeutet 'gut' auf Russisch." - "Du kannst Russisch?" - "Ne, aber kennst du nicht Clockwork Orange von Anthony Burgess? Oder zumindest die Verfilmung von  Kubrick." - "Klar, kenne ich, aber ich habe mir doch die Wörter nicht gemerkt. Was heißt denn schlimm?" -"Merski heißt gemein, besumni krank im Sinne von wahnsinnig, und bolnoi krank. Falls das so einigermaßen das trifft was du sagen willst." Er grinst verschmitzt. "Also Horrorshow wie sie im Buche Clockwork Orange steht nicht in diesem Sinne, sondern richtig besumni bolnoi merski wird es, das verspreche ich dir." Die Falte auf seiner Stirn wird noch tiefer, aber irgendwie weiß ich, dass uns nichts anhaben kann. Nicht einmal meine Mutter.

Fremd-körper

Täglich laufe ich tausenden von Zombies über den Weg, abgestorbene Zellhaufen, die durch die Gassen zu einem Ort laufen, den sie zu Hause nennen. Aber sie kommen nie nach Hause. Es scheint als hätten sie eine heimliche Liebschaft mit der exorbitanten Anziehungskraft des öffentlichen Raums. Durch die Straßen zu gehen, es kommt mir vor wie ein verbotener Einblick in das Leben anderer, das Tote hinter der Netzhaut. Teilweise drängt es mich so sehr, vor die Tür zu gehen und in den Augen anderer Leute herumzuwühlen, weil mein Leben mir nicht genügt. Auch wenn es die Trauer anderer Menschen ist, so ist es doch eine Trauer, die ich nie erlebt habe und nie erleben werde, solange ich in diesem Leben fest sitze. Es gibt so viel auf dieser Welt, was ich erleben möchte und trotzdem nie erleben werde. Ich komme mir vor, dass ich so viel verpasse, Gefühle nicht fühle, Düfte nicht rieche, Orte nicht begehe, nicht anfasse, Licht und Schatten nicht sehe, Lieder und Weinen nicht höre, und dabei ist es mir ganz gleich, welchen Schmerz und welches Unglück an mir vorbei zieht. Für mich ist es trotzdem ein Verlust. Ich will allem Leid der Welt nachfühlen. Ich befinde mich in einer Sackgasse, doch mein Navi sagt: "Folgen sie dem Straßenverlauf!" und immer weiter steigt in mir der Wunsch auf, aus diesem Leben auszubrechen, die Hungersnot in Afrika am eigenen Leib zu erleben, im chinesischen Knast zu sitzen und in amerikanische Straßenschlägereien verwickelt zu sein. Aus der Stadt heraus zu fahren, über ländliche Grenzen und bestenfalls wie eine Furie aus der eigenen Haut zu fahren. Diese Haut, die eine Zwangsjacke ist, aus der ich mich nicht befreien kann. Das Ich und das Jetzt, vor dem ich zu flüchten versuche, weil es genauso verdammt ist, wie die stumpfen Seelen in der Fußgängerzone zu enden. Ein Warten auf eine Veränderung, die nie kommen wird, auf ein Ich, das nie sein wird, weil es nie geboren wurde; auf ein Selbst warten. Vergeblich, verschwendet, vergessen, verraucht. Verbraucht.

And I am bored to death with it. Bored to death with this place, bored to death with my life, bored to death with myself.
-Charles Dickens

Yesterday all my troubles seemed so far away

Ich halte zu sehr am Vergangenen fest, an den Gesterns und den Vorgesterns. Ich halte daran so verkrampft fest wie Ronnie an den Zigaretten, die sie trotzdem lässig an den Lippen hängen lässt, die Fingerspitzen ausgeschert eine Stellung nachahmend, die vor ihr schon tausend andere so gebraucht haben. Sie inhaliert Dinge, die sie schon lange nicht mehr atmen kann. Sie raucht mittlerweile ohne Filter ihre Selbstgedrehten, in der Erwartung, die Dinge intensiviert und höher konzentriert ihren Rachen herunter schlängeln zu fühlen. Sie merkt nicht, wie viel Schlechtes ihr das antut, daran fest zu halten und ihre Lungen damit zu schwärzen. 
Ich halte an der Vergangenheit so sehr fest wie ein Zug, der schon längst abgefahren ist. Ein Teil von mir glaubt immer noch fest daran, dass das Abstellgleis seinen Weg zu mir finden wird, glaubt immer noch, dass alle Bahngleise an einer Stelle im Jetzt zusammen treffen werden. Dabei vergesse ich, dass sie an zwei Stellen gleichzeitig sein müssten. Ich fahre mit der Hand durch die Haare, meine Augen rot und müde, meine Brust scheint tot zu sein, mein Atem verlangsamt sich, das Bild im Spiegel zu lebendig, um an die Illusion zu glauben. Ich trage meine Lebensader in der Handfläche, in all den Bahngleisen, die sich in Serpentinen kreuzen aber nie zusammen laufen. An etwas fest zu halten, das du nicht greifen kannst, entschwindet meinen Händen eines Tages. Die Tränen vereisen zu Eiszapfen, brechen einfach ab, die Geheimnisse im Herzen werden vom Wind zwischen den Rippen davon geweht.


With the lights out, it's less dangerous, Here we are now, entertain us

18:00Uhr: Eine Nachrichtensendung berichtet vom tragischen Flugzeugabsturz mit zig Toten. Keiner soll es überlebt haben. Ein kurzer Anflug von Entsetzen, Sprachlosigkeit, Benommenheit. Keine zwei Sekunden später wird nicht mehr vom Unglück über den Wolken erzählt, sondern von der Kältefront, die aus dem Osten über das Land kommen soll und einige Regenstunden mit sich bringen wird.
19:00Uhr: Eine Sendung der Öffentlich-Rechtlichen schildern den Flugzeugabsturz aus der Sicht eines betroffenen Angehörigen. Eine Mutter, die es vor Schmerz fast zerreißen scheint. Tränen fließen, sie schreit hilflos, die Kamera zoomt heran. Der Zuschauer fühlt sich involviert, meint auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können, wie sich die Mutter fühlt. Der Augenblick ist so berührend und dramatisch in Szene gesetzt, dass man fast meinen könnte, der Mutter die Hand auf die Schulter legen zu können, als sie im Großformat zusammen bricht und ihre Träne plötzlich eine überdimensionale Größe erreicht. Die formale Stimme im Off-Ton verwendet Wörter aus dem ganzen Stilspektrum: Sie finden ihre ewige Ruhe, entschlafen, verbleichen, gehen heim, versterben, sterben, geben den Löffel ab, beißen ins Gras, kratzen oder nippeln ab.
Parallel dazu stirbt ein Charakter in einer Seifenoper, Fans im ganzen Lande scheinen vereint zusammen in Tränen auszubrechen. Kein Vergleich dazu die Leiche auf dem Seziertisch bei CSI, die nur die Einleitung in eine ganzstündige Sendung bietet. Die Handlung geht weiter, die Welt dreht sich weiter. Die Einschaltquoten am nächsten Tag in der Zeitung verlauten, dass die Reportage über die Mutter wesentlich mehr Leute zum Einschalten bewegt hat, als die Doku über Folter der Gefangenen in einem Kriegsgebiet auf N24.
Jo's Augenlider, wie sie noch zuckten, als das Leben aus ihm schwand, sie sind wie eingebrannt auf meiner Netzhaut. ich sehe den Ausdruck in jedem Leid der Welt, als wäre er im Schmerz wiedergeboren worden.

Schmerzstillend

Schmerz. Ich kenne dich nicht. Weder deinen Vornamen, noch deinen zweiten Namen, noch etwas, das du nach dir ziehst.  Ich weiß nicht, wo du her kommst oder wohin du eigentlich gehst, warum du lebst, zu welcher Jahreszeit du geboren wurdest oder wann du die letzte Kerze ausgeblasen hast. Ich kenne deine Stimme nicht, ob sie schreit oder flüstert. Auch weiß ich nicht, wo du dich versteckst, wenn ich dich nicht finde, wenn dort nur noch die Leere Platz findet. Ich weiß nicht, ob deine Augen schon damals blau waren, aber ich weiß, dass sie es jetzt noch sind. Blaue Augen, wie sie auf meiner Haut liegen, so tiefdringend, dass sie Materie durchbrechen, als wären sie etwas übernatürliches. Sie machen die Haut transparent, zeigen, dass ich nicht unnahbar sind und sprechen klarer als tausend Worte. Ich sehe deine Brust auf und ab sinken, als wäre jeder Atemzug ein neuer Tag des Wellenritts. Die zarten Wellenschläge, sie sind so etwas natürlich schönes, und ihre Schläge sind eigentlich keine Schläge, so liebevoll, wie sie sind. Doch trotzdem sind deine blauen Augen so trocken. Ich würde gerne weinen, Wellenreiten, ich würde gerne alles für dich sein, denn du bist ein Wort, das ich nicht kenne.

The Clan of Peter Pan

Jo lernte ich vor einigen Jahren auf der Straße kennen. Es war in den zwei Wochen, in denen ich 'obdachlos' war. Ich war von zu Hause weg gelaufen, weil ich es nicht mehr ausgehalten hatte, und hatte es lieber in Kauf genommen, auf der Straße zu leben, als eine Sekunde länger im Haus der Lügen auszuhalten. Es war die kindliche Naivität gewesen, dass das Imperfekt schon so inperfekt war, dass die Zukunft nur noch besser werden konnte - egal, wo. Es gab Kinder, die jünger waren als ich. 13-Jährige, die sich jedes Mal versteckten, wenn die Polizei kam. Ich war Jo schon am zweiten Tag aufgefallen und er kam auf mich zu, weil er ebenfalls auf der Straße lebte, allerdings schon seit rund einem Jahr. Im Gegensatz zu den anderen wusste er die Anzahl der Tage noch genau. Mir war damals schon klar gewesen, dass er kein Kind der Straße war; dass er die Tage zählte, seit denen er dort war, und die Tage zählte, bis er wieder weg kommen würde. Er stellte sich mir als Peter vor, Peter Pan. Auf der Straße, erklärte er ohne Worte, sollte man nicht fragen; dort ist nichts Echt. Wir lebten in einer Parallelwelt, unbemerkt und unsichtbar zur Gesellschaft existierend. Eine Gesellschaft mit ihren eigenen Regeln und Hierarchie. Eine Gesellschaft, die Jo damals "The Outside Society" nannte, nach dem Album von Patti Smith. Nach zwei Wochen merkte ich, dass in mir etwas heranwuchs, was nicht für die Straße geboren war und ich musste mir Gedanken machen, ob es überhaupt geboren werden sollte. Nachdem ich wieder verschwunden war aus dieser Gesellschaft, kehrte ich oft von meinem festen Wohnort zurück an die Orte, an denen wir uns aufgehalten hatten. Ich lud ihn immer wieder zum Tee ein, wir saßen stundenlang in Cafés, bestellten Getränke, die wir nicht tranken, aber die Hände wärmten. Jo erzählte mir Geschichten von seiner Kindheit, davon, dass er wie Peter Pan sein wollte.  Ich wusste rein gar nichts über Jo, nicht einmal seinen echten Namen, seine Geschichten stimmten vielleicht größtenteils nicht einmal, aber sie erzählten eine Sehnsucht und einen Wunsch, der mehr über ihn ausdrückte, als die traurige Wahrheit. Und trotz der surrealen Tatsachen fühlte ich mich verbundener zu ihm, als zu jedem anderen. Als ich ihm eines Tages erzählte, warum ich wieder von der Straße zurück gekehrt war, lächelte er sanft und so unergründlich weise. Nimmerland sei ein schöner Ort, sagte er, vor allem, weil dort nur Kinder lebten, die das Böse noch nicht kennen gelernt haben.
"Patricia," my mother scolded, "put a shirt on!"
"It's too hot," I moaned. "No one else has one on!"
"Hot or not, it's time you started wearing a shirt. You're about to become a young lady." I protested vehemently and announced that I was never going to become anything but myself, that I was of the clan of Peter Pan and we did not grow up.
- aus "Just Kids" von Patti Smith