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Mehlengel

Schon zum dritten Mal in dieser Woche drücke ich den Klingelknopf neben dem Schild mit den drei Nachnamen. Ohne durch die Freisprechanlage zu fragen, wer dort sei, erklingt ein mechanisches Surren und ich drücke die Tür nach vorne. Jules weiß, dass ich es bin, immerhin hat er mich eingeladen. Man hört schon die lauten und doch harmonischen Melodien aus Eddie Vedder's Kehle durch das graue Treppenhaus mit den Backsteinwänden und dem wackligen Gerüst tönen, das ich zum Glück nicht hinauf steigen muss, denn das Loft der drei befindet sich im Erdgeschoss. Ein großes, rostrotes Industrietor bäumt sich vor mir auf, dessen linke Tür aber im selben Moment geöffnet wird. Mein Herz vollführt einen Salto und landet auf meinen Lippen, die mit einem treudoofen Beigeschmack in die Höhe wandern. "Hey", bringen sie noch hervor, bevor Jules sie zum Schwiegen bringt.
In der großen, offenen Küche tanzen Jana und Flip um die Kochinsel herum, auf der Chris mit gelassener Körperhaltung sitzt, sich vom Ofen den Hintern wärmen lässt, und sein Bier trinkt. Chris und Flip/Philip sind Jules' Mitbewohner, Jana Flip's Freundin. Für eine Sekunde überkommt mich Traurigkeit. Zu sehr erinnern mich Flip und Jana an Jo und Ronnie, wie sie einmal waren.  Die beiden Paare ähneln sich so stark in Optik und Charakter, dass es unheimlich ist. Und schwer für mich. Die Zutaten zum Pizza-Backen stehen schon auf den Theken verteilt. Ich musste mich lange überwinden, denn es ist die erste Pizza seit mehr als 5 Jahren. Ich sehe es schon vor mir: Wie ich vor der Pizza stehe und mich die Überlegung quält, wie ich meinen Teil der Pizza belegen soll. Mozarella und Käse? Eine Tomate oder zwei? Hat Paprika mehr Kalorien als Pilze? 
Jules, Flip, Jana und ich unterhalten uns, während Chris den Teig ausrollt. Jules sitzt hinter mir auf der Insel und nimmt eher passiv an der Unterhaltung teil, weil er viel zu beschäftigt damit ist, an mir herum zu fummeln. Ich genieße es, wie meine Haut unter jeder Berührung Feuer fängt. Einmal drehe ich meinen Kopf leicht zur Seite, um ihn anzusehen. Er lächelt sanft und will mir mit der Hand das Mehl, das mir wohl an der Wange hängt, weg streichen, doch an seinem Handrücken hängt selbst Mehl und er verteilt nur noch mehr auf meinem Gesicht. Mehr amüsiert als wütend greife ich in die Mehltüte neben mir und wuschle durch sein schwarzes Haar. Einige Mehlkörner bleiben auf den Spitzen seiner Wimper hängen, und der Rest ist auf seiner Haut verteilt. Er sieht ein bisschen aus wie Robert Smith, lacht aber herzlich und greift ebenfalls ins Mehl, nimmt sich gleich eine Handvoll und wirft sie nach mir. Als ich es ihm gleichtue, weicht er allerdings aus und ich treffe - wie eigentlich hervorsehbar - Flip, der natürlich gleich zum Gegenangriff ausholt.  Chris bekommt eine riesengroße Bombe auf den Rücken und antwortet mit Gegenfeuer. In einer Kettenreaktion stehen plötzlich alle an der Front  und das Schlachtfeld ist bald mit einem weißen Zuckerguss verziert, der sich nur durch genaues Hinschauen von der weißen Welt auf der anderen Seite des Fensters unterscheidet. Als das Mehl aufgebraucht ist, lasse ich mich völlig erschöpft auf den Boden sinken, Jules an meiner Seite. Ich sehe ihn kurz mit einem verspielten Lächeln an, und beginne, einen Mehlengel zu machen. Er macht es mir lachend nach und irgendwie fühlt sich dieser kindisch naive Moment an wie pure Romantik. Echte Romantik, nicht das rosarote Roman-Szenario. Die echte Romantik, die einen durch Fleisch und Blut jagt und am ganzen Körper zittern lässt. Die Romantik, die einen gefangen nimmt und es plötzlich egal ist, mit wie vielen Kalorien man seine Pizza belegt.

Die Laute


Ein Kuss hat keinen Reiz, wenn man noch nie erfahren hat, was Liebe bedeutet. Und Sex erst recht nicht. Ich verstehe es nicht. Liebe machen, und nicht mit meinen Körper auf jemandem herum planschen, hinein tröpfeln und versickern. Ich möchte mehr, als Finger, die über meinen Körper gleiten, um mich zu entschlüsseln, und einen züngelnden Schlüssel, der es in allen Öffnungen versucht. Es soll mehr bedeuten, als zwei Herzen nebeneinander und ein warmer, feuchter Atem, der in die Poren hineindringt, um dort den sauren Schweiß zu treffen. Der penetrate Schweiß, der bis zum Himmel stinkt. Wenn ich sage "Liebe machen", dann meine ich damit, sie zu kreieren. Ich will deine Augen mit dem tiefen Meer in meinen verankern, und dich am Strand halten. Ich will dich genug lieben, um dich am Morgen gehen zu lassen, und trotzdem zu wissen, dass es dich mit dem Mond wieder zu mir schwemmt. Ich möchte es funkeln sehen in deinen Augen, wie ein Licht, das dich von innen erhellt, und deinen Schatten kennen. Ich will dein Herz beflügeln und mit dir davon reiten, und beweisen, dass eins und eins immer noch eins ist. Ich möchte eins werden mit dir, möchte dich über und über spüren, und auch darunter. Ich will mein Herz deinen Namen mit einem tiefen Bass-Schlag betonen hören, wenn er über meine Lippen fließt, möchte mein Lächeln abstimmen auf deines, um unseren Kreis zu finden, und das für immer gleich mit. Ich will du sein, mit dir verschmelzen. Denn ich liebe dich und will mich zu dir kreieren. Ich möchte dich in meinen Zellen, meinen Venen spüren, und deinen Schmerz erleiden. Tätowiere deine Haut mit meiner Zunge, denn ich will dich schmecken, in dem Magen meines Magens, der die Energie und Elektrizität durch meinen Körper jagt; den Sturm spüren, der in der Luft zwischen unseren Oberflächen tobt. Ich will dich verschlingen und eins werden. Ich will es kreieren und unsere Namen in den Sand schreiben, ohne mich über die Flut zu sorgen, sie aber trotzdem herbei zu sehnen. Ich will neben dir aufwachen und deine Seele atmen. Ich will fühlen, wie du mich fühlst. Ich will mich fallen lassen und nicht gefällt werden. Ich will Poesie sein, die durch Venen zu deinem Herzen gepumpt wird.

Ich bin die Laute. Willst du meinen Leib
beschreiben, seine schön gewölbten Streifen:
sprich so, als sprächest du von einer reifen
gewölbten Feige. Übertreib
das Dunkel, das du in mir siehst. Es war
Tullias Dunkelheit. In ihrer Scham
war nicht so viel, und ihr erhelltes Haar
war wie ein heller Saal. Zuweilen nahm
sie etwas Klang von meiner Oberfläche
in ihr Gesicht und sang zu mir.
Dann spannte ich mich gegen ihre Schwäche,
und endlich war mein Inneres in ihr
Rainer Maria Rilke

Die Rosenschale

"Das Gedicht hat mich an dich erinnert. Ich wollte es dir vorlesen", sagt er. Wir sitzen in seiner Wohnung - ein Loft, das er mit zwei Frunden als WG bewohnt - auf dem Bett und betrachten uns mit fremder Vertrautheit. Dieser Momet, er ist unbeschreiblich. "So etwas Schönes hat noch nie jemand für mich getan. Noch nie hat jemand bei einem Gedicht an mich gedacht. Und vermutlich wäre es aus dem Mund von allen anderen nicht so passend gewesen, wie aus deinem." Er sieht mich eindringlich an. "Du bist wunderschön." Ich weiß, warum er das genau jetzt sagt. Mit dem Gedicht hat er mir gesagt, dass er weiß, was mit mir los ist. Was ich habe. Meine Krankheit. Ich glaube, ich sollte Angst und Scheu oder sogar Scham spüren, aber ich will es ihm irgendwie erzählen. Ich will ihm mein komplettes Leben und Sein offenbaren, ich will, dass er mich kennt. Als Gegenleistung dafür, dass ich ihn kennen lerne. Mein größter Wunsch ist momentan, dass er das Interesse, die ich für ihn und seine Person empfinde, erwidert. Ich will, dass er mich begehrt.
Ich senke den Kopf. "Und so etwas Schönes hat mir auch noch niemand gesagt." - "Glaubst du mir?" Ich schmunzle. "Ich habe mal einen Film gesehen, ich weiß nicht mehr, welcher. Da hat ein Junge einem Mädchen ein Kompliment gemacht. Sie sagte Danke. Und er fragte sie, ob sie meint, er habe Recht, weil sie es einfach so annimmt, das Kompliment." - "Du hast Angst, eitel zu wirken?" - "Wir findest du, reagiert man adäquat auf Komplimente?" - "Realistisch." - "Ich vermute, ich falle nicht in das typische Schema einer Magersüchtigen. Die dann anfange mit 'Aber ich bin so hässlich' und sich nur noch mehr Komplimente einheimsen wollen. Weil sie meinen, 'ich bin hässlich' sei bescheiden. Dabei sind sie die eitelste Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Es gibt nur einen bedeutenden Unterschied zwischen Magersüchtigen und Narzisten: Dieses egozentrische Selbstbild ist bei magersüchtigen negativ und bei Narzisten positiv. Sie wolle so oft 'Aber du bist doch so hübsch' hören, weil 'ich bin so hässlich' das fast schon heraus porovziert. Das verliert die Grundbedeutung dieser Sache, oder?" - "Deswegen habe ich dich gefragt, ob du mir glaubst. Ich weiß, dass du nicht so bist, wie sie. Aber andere Leute gehen davon aus, dass ihr alle gleich tickt und du so was oft hören musst. Wenn du es so oft hörst, glaubt man es dann noch? Aber du bist so wunderschön und bescheiden in deiner rationierten Weise." Und du bist ein Lügner. "Ich finde, das Gedicht beschreibt eine eitle Frau.", stelle ich nachdenklich in den Raum, um vom Thema abzulenken. Er reagiert erstaunt. "Ehrlich? Du findest, dass sie eitel ist? Ich finde, sie ist genau das Gegenteil. Ich sagte ja, das Gedicht erinnert mich an dich. Wie kommst du darauf, dass die Person eitel ist?" Ich nehme ihm das Buch aus der Hand, suche die Zeilen und lese sie vor. "'...und jene da, die nichts enthält als sich...' Das heißt doch, dass sie sehr von sich selbst eingenommen ist." Er nimmt das Buch wieder an sich, ich zeige ihm die Stelle. "Ich verstehe das anders. Nur, weil man sich selbst und seiner Substanz bewusst ist, muss man ja nicht eitel sein. Und jene da, die nichts enthält als sich... Das bedeutet, man ist sehr hochkonzentriert, sehr klar,wesenhaft, essenziell und substanziell. Das ist für mich eine der schönsten Eigenschaften, die ein Mensch tragen kann. Schön wie eine Rose, so zart in ihrem Wesen, so lautlos ihre Blüte entfaltend, ohne anderen den Raum weg zu nehmen, immer auf andere bedacht in ihrer Entfaltung. Und trotzdem so kräftig und wesenhaft. Trotzdem so für sich stehend."


jules. JULES. jules.

Sein Name hallt immer wieder in meinem Kopf wider. In großen, roten Lettern, die keinen Ausweg aus dem Knochenkäfig meines Schädels finden. Er siehet nicht aus wie ein Jules. Eher wie ein Orlando. Ein Orlando Bloom.Wie ein Ben, ein Ben Whishaw. Nein, eigentlich, bei genauerem Hinsehen sieht er aus wie ein Jules. Er ist niemandem gleich, den ich bisher in meinem Lebe kennen gerlent habe. Das faszniert mich. Ich lerne eine komplett neue Sorte Mensch kennen. Er hat etwas geheimnisvolles, etwas fremdes, das aber einlädt, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Etwas , komplett ohne Redundanz in einer einzigen Zelle seines Körpers; komplett ohne etwas Triviales in seinem Wesen und seiner Art. Ich komme mir vor, als hätte ich hinter dem Mond gelebt. Mit kindlicher Neugier bin ich im wahrsten Sinne des Wortes gierig auf alles, was mit ihm im Kontext steht. Ich möchte diesen Mann verdammt nochmal kennen lernen, und zwar alles an ihm! Wieder steigt dieser Wunsch in mir auf, ihn zu zeichnen, ihn in meinen bildlichen Worten zu erfassen. Meine persönliche Interpretation des Jules M. Ich will dich zeichnen, wispere ich verträumt in die Kuhle zwischen seinem Schlüsselbein und dem Hals. So leise, dass ich glaubte, er würde es nur als zarten Lufthauch an seiner Brust spüren. "Was?" Ich hebe meinen Kopf leicht an, um ihm in die Augen sehen zu können. Blaue Augen, so rein und tief wie das Meer. Ohne eine Hoffnung auf Rettung versinkt man. Wenn man erst einmal in den Tiefen des Ozeans versinkt, finet man schwer wieder hinaus. 

Zähle die Momente


Sie saß auf einer festgeschraubten Bank in der Bahnhofunterführung – die Schultern nach vorne gedrückt und den Rücken wie einen Buckel nach hinten gestreckt. Die Haare fielen ihr wie ein Vorhang ins Gesicht, jede Locke wie eine Sinuskurve aus dem Matheunterricht. Ich musste selbst rechnen: Wann hatte ich sie das letzte Mal gesehen? Es muss mindestens eins Jahr her sein, dachte ich mir. Sie würde die Anzahl der Tage sicher auf die Nullstelle genau wissen, da war ich mir sicher. Ich blieb stehen und betrachtete sie aus der Ferne. Es war zweifellos Sina. Zwar verdeckten ihre Haare – vermutlich beabsichtigt – die linke Gesichtshälfte, aber ich sah die roten Pigmente ihrer Haut durch die Lücken ihrer Locken schimmern. Mir hatte es schon immer unheimlich gut gefallen und manchmal wünschte ich mir sogar, selbst so ein Feuermahl über das halbe Gesicht gezogen zu haben. Ich erinnerte mich an die Situationen mit kleinen Kindern, die ihre Mütter am Ärmel zupften und laut fragten, ‚was das Mädchen für rotes Zeugs im Gesicht habe‘, woraufhin sie von ihren Müttern weiter gezerrt wurden, als wäre Sina ein Monster mit ansteckender Krankheit. Sie selbst bezeichnete sich als solches. Als Bastard. Ich sehe es bis zum heutigen Tage als Kunst an. „Entartete Kunst“ konterte sie früher in der Klinik immer, aber sie konnte sagen, was sie wollte, für mich waren diese roten Zierden auf ihrer Haut eine Kunst der besonderen Art. Wie Wassermalfarbenrückstände, wie Wolken, wie Küsse und Liebkosungen, verwachsen mit ihren Hautzellen. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging ich auf sie zu. Als sie meine Schritte bemerkte, hob sie neugierig den Kopf. Ihre intelligenten Augen brauchten nicht lange, um mich zu identifizieren. Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht, sie sprang mit einem Ruck auf und weitete die Arme, um mich darin einzuschließen. Ich erwiderte es und drückte sie fest an mich. „Gott, haben wir uns lange nicht mehr gesehen!“, presste ich heraus und dabei wurden sogar meine Augen leicht feucht. „Na ja, seit deiner Entlassung eben.“ Sie ließ mich los, hielt aber meine kalten Hände fest. Ein wenig besorgt sah sie an mir herunter. „Du weißt schon, man hat mir gesagt, nach der Entlassung ist es empfehlenswert keinen Kontakt mit den Leuten von der Station zu haben. Das war mir natürlich scheiß egal, aber ich wusste nicht mal deinen Nachnamen. Ich habe wirklich sogar mal nach einer Elena gesucht, aber du kannst dir ja vorstellen, wie viele es davon gibt.“ -  „Jaja, wie eine Seuche!“, regte ich mich affektiert auf. „Voll der Hipster-Name! Es gibt keinen Namen in Deutschland, der nicht öfter auf sämtlichen Brotzeitboxen in Kindergärten zu finden ist!“ Ich lache mit ihr. „Du hast doch sicher ein bisschen Zeit übrig, oder?“ – „Klar“, antwortete sie mir heiter. Ich habe ihre aufgeweckte Art vermisst. „Na dann lade ich dich ein. Wir kriegen sogar 10,5% Mitarbeiterrabatt!“, prahlte ich mit leichtem Sarkasmus unterlegt. Sie kicherte, aber ich wusste genau, was diese Zahl mit ihr anstellte. Skeptisch schielte ich zu ihr herüber. Man hörte fast die Peitschenhiebe der Neurose auf die Synapsen schlagen. „Weißt du, Elena belegt tatsächlich Platz 13 der beliebtesten Namen und Sina nur Platz 42.“, flüstert sie leise. Ich drehte meinen Kopf zu ihr. Mein Blick sollte nicht vorwurfsvoll sein, aber es rutschte mir heraus. Sie seufzte genervt. „Du hast auch abgenommen seit der Klinik!“, konterte sie zickig. Ich nickte und wusste genau, was jetzt kommen würde. Meine Ahnung wurde bestätigt: "Wie viel wiegst du? Bitte auf die Kommastelle genau. Und was ist dein BMI? Wie viel Prozent deines Normalgewichts macht es aus? Wie groß bist du? Was sind deine Maße?“ Ich lachte sie freundschaftlich aus und sie lächelte mir zu. Dafür hatte sie später das Kommentar gut, dass ich nur Wasser trank und keinen Orangensaft und Wein wie sie. Es wurde ein langer Abend. Sina erfasste ihn in ihrer eigenen Intensivität. Sie konnte ihn bis auf die einzelnen Sekunden genau definieren.

People should fall in love with their eyes closed

Komplett schlaftrunken wische ich benommen die Theke ab. Die letzten Stunden des Abends bäugen sich der Dunkelheit der Nacht, und so auch ihre Tänzer und andere Gestalten. Als ich aufblicke, steht ein Man vor mir. Er ist mir an diesem Abend schon öfters aufgefallen. Er schaute immer zu mir rüber, wenn er in mein Blickfeld trat, aber das war es nicht einmal, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er ist verdammt schön. Es gibt Menschen, die sind nicht hübsch, im Sinne von Schönheitsidealen, sondern schön. Schön in ihrer Ausstrahlung, schön in ihrer Art, in ihrem Lächeln, in ihren Bewegungen. Sie haben keine perfekten Gesichter, sondern markante Züge, und charakteristische Nasen oder Kinne oder Augenbrauen oder Wangenknochen oder Finger oder alles zusammen. Diese Sorte Mensch gibt es nicht oft, aber ich mag sie am Liebsten. Man lernt die kleinen Dinge zu schätzen, und sie tragen die größte Schönheit in sich. Mit ihnen erlebt man die größten Abenteuer, die intensivsten Momente und die härtesten Abschiede.
Verdammt viel, was man einem Menschen aus der Ferne alles ansehen kann.
"Darf man der Kellnerin auch etwas zu Trinken ausgeben?", fragt er schmunzelnd und legt seine Arme verschränkt auf den frisch gewischten Thresen. Ich schaue auf seine Hände herab. Hände, das Wichtigste an einem Mann. Saubere Fingernägel, frisch geschnitten. Ich habe mal gelesen, dass je größer das Verhältnis der Abstände der einzelnen Finger ist, desto temperamentvoller sind Menschen. Seine Finger scheinen alle relativ gleich lang zu sein, die Proportionen sind stimmig. Seine glatte Gesichtshaut und die sorglosen Augen deuten sowieso eher auf ein ausgegelichenes Gemüt hin. Seine Hände sind komplett sauber, vermutlich eher weniger der Typ Bauarbeiter. Journalist, Sport-Student im letzten Semester oder Kleinstadt-Rockstar, irgendwie so etwas. Etwas filigranes, detailgetreues, so tickt er. Wie sein Gesicht. "Wenn du mir deinen Namen als Gegenzug verrätst?", antworte ich mit verspieltem Lächeln und lasse mich damit auf den Flirt ein. Sein Lächeln wird etwas breiter, meine ich. "Jules", sagt er und reicht mir die rechte seiner wunderschönen Hände. Ich greife sie euphorisch, und etwas dankbar, endlich das berühren zu dürfen, was ich schon die ganze Zeit mit den Augen abtaste. Für mich war es schon immer eine Psychologie für sich, wie jemand seinen Namen ausspricht. Und meinen eigenen kann ich bis heute nicht im richtigen Ton heraus pressen. Aber ich versuche es. Er lächelt. "Schöner Name. Erinnert mich an eine Fee." "Ehrlich?", lache ich amüsiert. "Ja, wirklich. Mit Flügeln und blondem Haar." "Nun, ich habe keins von beidem." Wieder lacht er so herzlich, dass ich mit einstimme. Ich verstumme zuerst, sehe ihn an, beobachte seine Gesichtsmuskeln, wie sie zucken, seine Mundwinkel, wie sie in einem Wettrennen nach oben streben. Ich will dich zeichnen, denke ich. Ich will morgens neben dir aufwachen und dich in all deinen bedeutenden Details verewigen, während du noch schläfst, und die Zeichnung verstecken, damit ich dich immer als mein kleines Geheimnis besitze.

Stumme Zahlen

Was sagt alleine die Methode aus, mit der man sich umbringt? Wenn man sich klammheimlich im dunklen Kämmerlein Pillen einwirft [≈14%]? Wenn man sich die Luft zum Atmen nimmt und die Schlinge wählt[≈62%]? Wenn man sich im freien Fall in die Tiefe stürzt, in das Ungewisse, bis die komplette Substanz des eigenen Seins in tausend Splitter zerspringt [≈10%]? Wenn man den roten Faden der Traurigkeit durch Fleisch und Blut sticht, bis das Leben qualvoll erstarrt[≈5%]? Warum fällt es so leicht, selbst nach Jo's Tod ihn in eine Schublade hinein stecken zu wollen? Ihn formal einzuordnen? Weil Fakten nun einmal jegliche Emotionen im Keim ersticken."9451 Menschen nehmen sich jährlich das Leben", "603 sind durchschnittlich Jugendliche", "drei Viertel von ihnen sind männlich..." Menschen werden zu Zahlen. Zu stummen Zahlen in einer Statistik.  
Das Fehlen einer Menge wird durch eine Zahl ausgedrückt, das Fehlen eines Gegenstandes oder einer Person drückt man besser in "gibt es nicht (mehr)" aus; Zahlen bleiben abstrakt, und die Null drückt weder das Fehlen, noch den Schmerz aus.

Totgeschwiegen

Es mag banal klingen, aber manchmal, da frage ich mich: Ist es pietätlos, einfach so das Leben weiter zu leben? Im nächsten Moment frage ich mich: Wie hätte er es gewollt? Würde er noch leben, würde ich ihm eine reinhauen, wenn er mir sagen würde, wie er es gerne haben möchte, wie ich lebe. Einfach weiter leben, das geht schon einmal deswegen nicht, weil er nicht mehr da ist. Wie kann ich wie bisher weiter leben, wenn ein großer Teil meines Lebens einfach ausgelöscht ist? Ich sitze da, unter einem Baum im Park, damit der Regen nicht das Abgebildete zerstört, auf das ich starre. Diese Momente, die für immer erstarrt sind in einem Bild, sie sind mir geraubt worden, und ich konnte nur hilflos zusehen, wie sie verschwinden. Genauso starr und reglos sehe ich den eingefrorenen Moment vor mir, als ich vor ihm kniete, die Bluttropfen wie im Sekundentakt auf den Boden tropften und die einzige Bewegung im Raum zu sein schienen. Das einzige, was sich bewegte, war der Tod. Deswegen werde ich diese Momente aber nicht in eine Kiste packen und im Schrank hinten verstecken, als hätte sie es nicht gegeben. In den Kisten, wie wir sie alle kennen, bis die Farben verblassen, ausbleichen, sowohl im Gedächtnis, als auch in den Worten. Meine Gedanken und Worte halten ihn am Leben, die Erinnerungen an ihn sind so lebhaft, als könnte ich ihn in meine Arme schließen und fest an mich drücken. Ich will über ihn reden, ihn nicht sterben lassen, aber jeder meiner Freunde erstickt an der Erkenntnis, dass er schon längst tot ist.

"Und so red ich mit dir wie immer,
so als ob es wie früher wär,
so als hätten wir jede Menge Zeit.
Ich spür dich ganz nah hier bei mir,
kann deine Stimme im Wind hören
und wenn es regnet, weiß ich, dass du manchmal weinst,
bis die Sonne scheint; bis sie wieder scheint."
die toten Hosen - Nur zu Besuch

Nach dem Bissen ist vor dem Bissen

Ich weine, die salzigen Tränen tröpfeln in mein Joghurt rein und vermischen sich mit dem Zucker, das mir Anna hinstellte. Ich zittere und weine. Bei jedem Bissen fällt mir der Löffel fast herunter. Es fällt mir so schwer. Meine Muskeln wollen streiken und den Löffel nicht zum Mund führen, mein Kopf hämmert dagegen. Iss einfach. Einen Bissen! Ich will nicht aufgeben, mich nicht ihren Regeln fügen, nicht als feige, schwache dumme Kuh enden. Es dauert ewig, bis ich den kleinen Topf Joghurt unter den Augen meiner Patentante aufesse. Ich muss alles runter schlucken. Ich hätte es auch trinken können.  Nach der Hälfte von dem Becher bin ich brechend voll, aber darf trotzdem weiter schaufeln. Sie lässt mich nicht gehen, bis der Becher leer ist. Ich brauche eine geschlagene Stunde und komme zwei Stunden zu spät zu meiner Verabredung. Ich hätte es mit einer Stunde Verspätung schaffen können, aber ich biege auf dem Weg nach der ersten Straßenkreuzung um die nächste Ecke und kotze das Joghurt wieder aus. Weil es so flüssig ist, geht das auch recht reibungslos. Und nachdem es noch nicht so lange in meinem Magen liegt und noch nicht verdaut werden konnte, schmeckte es nicht anders, als beim Essen. Es ist aber trotzdem eklig. Früher ist ganz normales Joghurt mit ein wenig Zucker und Zimt eines meiner Lieblingsessen gewesen, doch das war einmal.  Ich ekle mich selbst an. Ich mag es nicht, mich zu übergebe, aber manchmal muss es sein. Zu Mittag reicht ein Apfel. Mit jedem Bissen mehr habe ich Angst vor dem nächsten. Es wird gesteigert, es wird immer mehr. Fett häuft sich an. Nach dem Bissen ist vor dem Bissen und der Kreislauf geht weiter.
Ich wollte damit aufhören, rede ich mir ein. Nicht jetzt, jetzt habe ich andere Probleme. Ich kümmere um mich selbst, wenn ich mit den anderen Sachen abgeschlossen habe; keine Zeit, keine Energie. Ich schiebe es auf und lasse der Essstörung weiter ihren Lauf, weil ich Angst habe, mich zu stellen. Es ist viel bequemer, die Trauer mit dem gewohnten Irrsinn zu kompensieren, als es wirklich ernsthaft zu verarbeiten.