HOME TUMBLR LESENSWERT ZEICHNUNGEN DISCLAIMER FOLLOW ARCHIV

Blog-Archiv

"Selbstmord auf Raten"

Das ist es, was man mir immer wieder unterstellt hat; sei es der Alkohol und die Drogen oder die Magersucht oder mein Talent, daran festzuhalten, was mich nach und nach innerlich fertig macht und in die klinischen Depressionen zurück treibt. Man tut es immer noch, aber man sagt es mir nicht mehr ins Gesicht. Damals habe ich den Film Hunger angesehen, wider der Erwartung ein ziemlich politischer und aussagekräftiger Film. Bobby Sands geht in einen Hungerstreik gegen die Regierung Margaret Thetcher's. Ein Geistlicher fragt ihn, ob er sich umbringen möchte. Und Sands antwortet, dass es Mord wäre, wenn er dabei drauf geht. Die Regierung wäre es, die ihn ermordert hätte, sagt er. 
Kann man es so leicht abtun und sagen, Jo hat sich nicht selbst umgebracht, sondern er wurde von seiner Umgebung und den Missständen umgebracht? Oder ist das nur eine feige Ausrede und der Versuch, ihn im Nachinein zu glorifizieren? Niemand hat ihn gezwungen, sich die Klinge durch die Haut zu rammen. Aber ist es auch widerrum so leicht, zu sagen, es ist seine Schuld? 
Ich trage nämlich Teilschuld an seinem Tod. Und jeder andere seiner Freunde, die nie nachfragten. 

Der verlorene Sohn

Ich rede wirklich nicht oft darüber; es fällt  mir einfach so schwer. Jedem passiert mal Scheiße. Menschen machen Fehler. Entweder setzt sich unsere Scheiße dadurch zusammen, dass wir durch unsere Fehler uns selbst hinein manövrieren, oder andere Menschen machen Fehler. Es trifft niemanden weniger oder mehr, den jeder ist anders und für jeden sind andere Dinge leichter oder schwerer zu schultern. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht an ihn denke. An meinen Sohn. Ja, ich bin eine von ihnen - diese Menschen, die bei RTL unter dem Label "Assi-TV" gezeigt werden. Drei Jahre ist es her. Und immer noch denke ich an ein Wesen, das nicht einmal existiert. Weil ich es umgebracht habe.
Wie kann man jemanden lieben, den man nicht kennt? Die aber noch bessere Frage ist: Wie kann man etwas vermissen, das man nicht hatte? Ich werde nie erfahren, wie er aussah; wie es sich anfühlte, ihn in die Arme zu schließen; ob er mich mögen würde; ob wir uns ähnlich wären. Ich habe Ihm nie Klamotten gesucht. Ich male mir aus, wie mein Leben mit ihm verlaufen wäre. Es hätte so viel verändert, es in andere Bahnen geleitet. Vielleicht aber hätte ich auch nie die Erfahrungen gemacht, die ich nun einmal erlebt habe.  Aber eine Gewissheit besitze ich: Er ist all dem Leid entkommen, was ich ihm hätte bieten können. Keine mittellose Teenie-Mutter, keine komischen Familienverhältnisse; kein Streit mit dem Jugendamt.
Ich habe ihn noch nie gesehen, aber es fühlt sich an, als würde jemand ganz weit weg von mir mich besser kennen und verstehen, als ich selbst. Als wäre da ein unsichtbarer Draht. Manchmal spreche ich zu ihm, und er ist der einzige, der es versteht.
***
Ich zähle mir momentan all die Verluste auf: Mein Vater, meine Mutter, mein Sohn, Jo. Morgen ist Jo's Beerdigung. Es wäre das erste Mal, dass ich eine Rose auf sein Grab werfen könnte, aber wir haben uns für Asche entschieden. Es ist schon komisch, dass so viele Menschen für mich gestorben sind, und ich aber mit Jo als ersten wirklich Abschied nehmen kann.

Peaches and Cream

Es gibt ja immer so Psychologen-Theorien, dass man sich immer die Lover anlacht, die den Vaterkomplex kompensieren und man sich den Freund immer nach dem Vater-Bild aussucht. Ich kenne meinen Vater nicht, ich habe ihn nie gesehen und ich kenne nicht einmal seinen Namen. Aber manchmal, da wünsche ich mir, einen gehabt zu haben. Und zwar einen wie John Butler. Früher fand ich John Butler heiß, aber mittlerweile ist er irgendwie so etwas wie eine Vaterideal-Rolle geworden. Ich wünschte, ich hätte einen vater wie John Butler. Ich wünschte, er hätte Peaches and Cream für mich geschrieben. Ich wünschte, ich wäre seine Cream. Ich wünschte, er würde so über mich reden. Ich wünschte, er würde jedes Mal diese Widmung bei jedem verfickten Gig sagen, bevor er dieses Lied spielt. Ich wünschte, er würde es noch in 20 Jahren tun, und immer noch dieselbe Leidenschaft in diese Worte legen und Tränen in den Augen haben, wenn er die Akkorde anschlägt. Ich wünschte, ich hätte sein Leben in all seinen Grundfesten erschüttert, wie seine Tochter es tat, als sie in seine Hände fiel. Ich wünschte, ich würde ihm das bedeuten, was sie ihm bedeutet. Ich wünschte, er würde so von mir sprechen. Ich wünschte, er würde mich als das Beste in seinem Leben sehen. Das, was ihn an das Gute in der Welt erinnert. Ich wünschte, ich hätte einen Vater wie John Butler.

Man vermisst, was man nie hatte. Aber es gibt trotzdem einen positive Aspekt, wenn es darum geht, dass ich nie einen Vater hatte: Ich kann ihn mir flexibel formen zu dem Menschen, den ich mir insgeheim wünsche. Komplett abseits der Realität und Wahrscheinlichkeit. Ich kann mir vorstellen, dass mein Vater wie John Butler ist, weggehen musste, weil ihn sein Künstlerleben dazu zwang, und dass er nun jeden Abend in einem Bett irgendwo auf dieser Welt liegt und an mich denkt; dass er für mich viele Songs geschrieben hat und ihm jedes Mal die Tränen in den Augen stehen, wenn er sie singt. Jeden Tag.

Gone

Vor unserem Küchenfenster stand ein Baum, der mir nie so richtig aufgefallen ist. Seine Rinde war leicht grau, teilweise weiß, mit grünen Punkten überwuchert. Seine Blätter fehlten, aber das schon das ganze Jahr über. Flechte, ja genau, so heißt das.Vor einigen Tagen - vor dem Wintereinbruch - haben sie ihn gefällt. Das Hässliche, das aus der Reihe und dem Ideal fallende wird einfach weggesägt. Was nicht passt, wird passend gemacht. Ich sitze mit einer Tasse Tee am Küchentisch, starre nach außen, und bemerke nach Tagen seiner Abwesenheit zum ersten Mal, dass er nicht da ist. Kein Schnee auf seinen Ästen, die ihn unter der schweren Last nach unten zwingen. Warum haben sie ihn im Winter gefällt und nicht wie alle anderen verdammten Bäume erst im Frühling? Hat er die Gesellschaft irgendwie gefärdet? Wenn er selbst zusammen gebrochen wäre, wäre er dann auf das Haus gefallen und hätte es das auch mitsamt den Insassen zum Einsturz gebracht? Dieser Baum, er war für mich nie besonders, er ist mir nie aufgefallen - erst seine Absenz nimmt einen Platz in meiner Wahrnehmung ein. Er wurde erst wichtig, weil er plötzlich weg ist. Ich starre stundenlang hinaus, ohne zu merken, dass es plötzlich dunkel ist. Die Tage sind ja so schnell vorbei! Sie fliegen vorbei, und einige Zeit später fällt einem das erst auf, weil die Tage eben schon weg sind. Es sind nur noch die Straßenlaternen, die leuchten, und Licht in die Sache bringen. Sie sind beständig, bei ihnen kann man sich sicher sein, dass sie auch noch morgen dort stehen. Und einem den Weg weisen. Ich gehe raus, dick verpackt in zwei Pullover, einer Daunen-Jacke und Strumpfhose, Hose und drei Schichten Socken. Ich wandere ein bisschen auf und ab, lasse meine Gedanken mit den Schneeflocken schwingen, und bleibe schließlich auf einer Parkbank sitzen. Eine Träne kullert mir über die Wange. Ich trauere um den toten Baum. Weiß nicht einmal, wo sie ihn hingebracht haben. Als ich wieder nach Hause komme, erwartet mich Anna. "Wo warst du", fragt sie. Weg, antworte ich.
Maybe in another life
I could find you there
Pulled away before your time
I can't deal it's so unfair
Gone Away - The Offspring

Weihnachten.

Das Ranking für das Schlimmste an Weihnachten steht nicht sicher. Meine Mum wieder zu sehen und die Tatsache, dass ich Jo's Geschenk selbst auspacken durfte, das sind die Punkte, die sich um den ersten Platz streiten. Ausnahmsweise fällt das Essen auf das Schlusslicht. Es gab Ente. "Ne, sorry, bin doch Veganer" brachte mir am ganzen Weihnachtsabend auf 160kcal durch Suppen. Hat nicht viel gebracht. Ich ging daraufhin gleich zur nächsten Feier mit meinen Freunden, dort hätte man das Soja-Festessen wohl eher mit den Worten "Ne, Sorry, bin doch Fleischfresser" umgehen können. Mein Großvater, der früher Reden für Geistliche geschrieben hat, band Jo sogar in seine "Andacht" im Wohnzimmer ein. Und mir kamen die Tränen. Anna nahm mich in den Arm und über ihre Schulter blickte ich in die Augen meiner Mutter. In ihrer Hand das Sekt-Glas. Beschämt versteckte sie es hinter ihrem Rücken.

Stille

Alle sagen sie mir, das Leben geht weiter, aber mometan scheint alles still zu stehen. Die Zeit, das Denken, und ich scheine irgendwie in diesem Moment fest zu stecken. Ich sehe immer nur das Blut und die starren Gesichter um mich herum. Wie eine Momentaufnahme in Schwarz-Weiß, nur mit dem Unterschied, dass der Schmerz und die Trauer viel mehr Dynamik rein bringen, als es eine Fotografie fest halten könnte.
Jo hatte keine Familie, seine Mutter war als Junkie irgendwo verendet, und sein Vater ist nicht bekannt. Er wuchs in einem Heim auf, also kamen sie zu uns, um die Beerdigung zu planen. Wegen Weihnachten liegt er jetzt irgendwo in kalten Räumen herum und alles, was sie kümmert ist, dass er nicht im Weg herum liegt. Um ihn herum spinnt die Welt ihren Weihnachts-Irrsinn. Liebe und Beisammensein. Und alles, was wir mitbekommen, ist der Tod und die Einsamkeit. Alles, was ich denke ist, ob ich morgen wirklich so pietätlos sein und als ob nichts wäre mit meiner Familie Weihnachten feiern kann. Ob ich überhaupt jemals wieder ein Weihnachtsfest feiern kann.

Suizid-Party

Ich kanns nicht mehr lesen, dieses Wort. Ehrlich. Wir alle leben noch, und im Gegensatz zu jeder anderen (genauso) normalen Nacht hat jeder das Bedürfnis, der Welt mitzuteilen, dass er auch noch lebt. Oho. Falls es jemand wissen möchte: Ich hatte eine miserable Nacht und für mich ist definitiv eine kleine Welt zumindest zusammen gebrochen. Ich war auf einer Party eines guten Freundes. Keine Weltuntergangs-(da ist das Wort schon wieder! :/)Party, sondern eine ganz stinknormale Freitag-Nacht-Party wie jeden verfickten Freitagabend. Ich hatte ein rotes Samtkleid an, das ich mir erst neulich gekauft hatte, war total gut drauf, hatte vergleichnismäßig wenig getrunken und war ziemlich happy, dass diese Party ausgerechnet bei Jo statt fand, weil der aus meinem Freundeskreis den besten Musik-Geschmack hat und somit eigentlich fast ausschließlich Ska gespielt wurde. Ich konnte meine Füße nicht mehr still halten und habe mit jedem Zweitem getanzt, der auch nur im Umkreis von 2m neben der Tanzfläche stand. Nur einen  Moment später war es still. Jeder stand wie agewurzelt auf der Stelle. Man hörte nur noch die Schläge der Kirchturmuhr in der endlosen Nacht hallen. Irgendwo in der Nähe ging eine Silvester-Rakete in die Luft. Das Einzige, was diese fast idyllische Harmonie durchbrach, war der gellende Hilfeschrei, der uns allen in den Knochen saß. Meine Freundin Ronnie kam aus dem Bad gerannt, jemanden im Arm tragend. Jo. Jo mit aufgeschlitzten Pulsadern. Ronnie schrie und heulte gleichzeitig. Hinter ihr ein roter Faden, und sie von Kopf bis Fuß mit Blut überströmt. Ihre Augen waren weit aufgerissen und im nächsten Moment wehleidig zusammen gepresst, um dem Anblick zu entgehen. Sie war mittlerweile auf die Knie gefallen, die Arme nun nicht mehr um ihren Freund geschlungen, sondern um ihren eigenen Torso. Sie wippte hin und her, die schwarzen Tränen ronnen ihre hohe Wangenknochen hinab und hinterließen fast schon etwas wie eine kustvolle Kontur ihrer Silhouette. Keiner tat etwas. Alle standen nur da und glotzen. Wer weiß, was sie unter ihren Halluzinationen in dieser Situation sahen? Ich jedenfalls rannte zu Ronnie und Jo, kniete neben ihm nieder und hielt mein Ohr über Jo's Kopf. Kein Atem. Kein Puls. Kein Herzschlag mehr. Wann hast du ihn gefunden, fragte ich Ronnie halb abwesend, während ich schon die Nummer des Notrufs in mein Hady eintippte. Meine Stimme bebte, wirkte aber trotzdem so linear und unverfehlt, dass man mir fast hätte unterstellen können, das ganze würde kalt an mir vorüber gehen. Meine Finger zitterten, ich verfehlte bei jeder Zahl die Taste. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis Ronnie antwortete. "Gerade eben. Wir haben die Tür aufgebrochen. Er war schon mehr als eine Viertelstunde da drinnen.", presste sie unter Schluchzen heraus. Sie lehnte sich nach unten, über ihren Liebsten, und nahm dessen Kopf in beide Hände. Ich hatte noch nie einen so intensiven und fast beschwörenden Ausdruck in Ronnie's Augen gesehen. Es war unheimlich. Die Stille war unheimlich. Jetzt, wo sie aufgehört hatte, ununterbrochen zu brüllen war es so gespenstisch ruhig. Die Kirchturmuhr hatte aufgehört zu schlagen. Ich starrte Ronnie wie besessen an. Ihr Gesicht schwebte vor Jo's und ihre Lippen formten Worte, die keinen Halt fanden, keine Resonanz. Ronnie war komplett leer, und so waren ihre Augen. Sie wisperte immer wieder "Verlass mich nicht" vor sich hin, wie ein Mantra, aber insgeheim wusste sie genauso gut wie jeder andere in diesem Raum, dass Jo sie schon lange verlassen hatte und das Meer, in dem sie versank, sie auch nicht näher zu ihm bringen würde. Ich traute mich nicht, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, sie zu streicheln, oder gar in die Arme zu schließen. Ich wusste nicht, wohin mit meinem Blick - überall Blut: An meinen Händen, überall an Ronnie's Körper, an Jo, Fußspuren auf dem Boden und eine große Pfütze um Jo herum. Also schloss ich die Augen. Endlich meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung. Benommen sagte ich meinen Namen auf, schilderte die Situation und sagte schließlich auch die Adresse. "Er hat keinen Puls mehr, und sein Herz schlägt auch nicht mehr.", sagte ich. Stille. "Seit wann?", fragte die Frau von der Notdienststelle. "Wir wissen es nicht, aber höchstens 15 Minuten." Stille. Nicht einmal ein Atemzug. "Ein Krnkenwagen ist unterwegs. Schicken Sie bitte jemanden auf die Straße, der sie in die Wohnung bringt." "Okay", flüstere ich mit einem erschöpftem Atemzug. In diesem Moment rollt mir die erste Träne über die Wange. Ich spüre den Schock, die Spannung meiner Muskeln, die meinen Kiefer nicht auseinander bringen, und meine Finger kaum die rote Taste drücken lassen. Ich starre mein Handy an. Warum ist ausgerechnet die Taste für die Beendigung rot? Blutrot.
"Könnte bitte jemand von euch auf die Straße gehen und die Sanitäter hier rein lotsen? Sie müssten in spätestens 10 Minuten kommen." Keiner reagiert. Alle starren in die Mitte des Raums, wo Ronnie, Jo und ich uns in einer Blutlache befinden. Ich schaue in die Runde, schaue jedem einzelnen in die Augen, in der Hoffnung, dass sich irgendeiner meldet. Aber enteder entsetztes Kopfschütteln oder ein flüchtendes Abwenden des Blicks. "Izzy? Peter? Joe? Jana?" Ich rufe Namen auf, spreche sie an, aber keiner erklärt sich bereit. Das Höchste, was ich bekomme, ist ein "Aber ich bin vollkommen high und betrunken! Ich kann doch nicht den Bullen in die Arme laufen!" von Peter. Und plötzlich wird es wieder laut. Ronnie hebt den Kopf und fährt Peter mit einer nie dagewesenen Aggression und Lautstärke an, dass alleine die Schallwellen Jo wiederbeleben könnten. In Anbetracht seines Zustand steht Peter blitzschnell auf der Straße vor dem Haus. Aber als seine Schritte im Treppenhaus verebbt sind, herrscht wieder absolute Stille. Es kommt mir wie ein Tornado vor, als meie Tränen auf meine blutigen Hände tropfen. Ich schaue erst Ronnie an, die sich wieder über Jo gebeugt hat, und schlielich Jo's lebloses Gesicht. Die Tränen steigen in mir auf, ich kann nun nichts mehr zurück halten. Am Liebsten würde ich ihm ebenso um den Hals fallen und rütteln und schütteln und beten, dass das alles nur ein Scherz ist. Es stimmt nicht, dass einem vor dem Tod die Bilder seines Lebens vorbei ziehen. Ich weiß es, ich war schon einmal tot. Man sieht nur Schwarz. Diejenigen, die die Bilder an sich vorbei ziehen sehen, sind die Menschen, die zurück bleiben. Ich sehe jede einzelne Sekunde mit Jo vor meinem inneren Auge vorbei ziehen. Sein Lachen hallt in meinem Ohr wie ein schlechter Sountrack unterlegt mit sentimentalen Klavier-Akkorden wieder. Nach außen hin muss ich aussehen wie eie Wahnsinnige. Mein Kinofilm wird unterbrechen, als mich rote Männchen zur Seite schieben wie ein Möbelstück, das an der falschen Stelle steht. Sie reißen Jo das Hemd auf, pumpen an ihm herum, aber das Scheitern ist doch schon von Anfang an vorprogrammiert. Ich erlebe alles nur hinter einem Schleier. Ich bin nicht wirklich anwesend. Die Bewegungen der Sanitäter sind so mechanisch, so stockend. Wie in einem YouTube-Video, und ich wünschte, ich könte einfach auf Pause drücken, mich sammeln, warten, bis der graue Balken lädt, und dann das alles mit anderen Augen, mit einer anderen Wahrnehmung mitbekommen. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich könnte schwören, es war Jo, der mir noch einmal eine Kopfnuss gibt und dann verschwindet. Ich sehe seinen Arm, wie er unter den Bewegungen  herum tanzt, als wäre er voller Lebensgeist. Er blutet nicht einmal mehr. Blutleer oder lebensleer? Er ist tot. Das sagen auch die Fachleute. Ich sehe die vertikalen Striche an seinem Arm. Er wollte sterben, und zwar ernsthaft. Ich habe in meinem Leben einen Haufen Leute kennen gelernt, die sich das Leben nehme wollten, aber selbst diese konnte man in zwei Sorten aufteilen: Die einen, die wirklich sterben wollten, und die anderen, die gerettet werde wollten. Sorte zwei hängt sich an Zahnseide auf und schneidet waagrecht, Sorte eins nimmt Stahlseil und schneidet senkrecht. Jo wollte sterben. Und er hatte die Badezimmertür abgeschlossen. Ich sitze hier und schreibe diese Worte, und überlege, dass er im Kreis seiner Freunde gestorben ist. Er war wie wir alle eine obdachlose Seele, ohne Familie und in einer Welt gefangen, die keiner so recht durchblickt. Wir alle sind die "Sons of Rage and Love". Wir haben ähnliche Schiksale und kämpfen uns durch das Leben, aber wir belügen uns gegenseitig. Jeder kämpft sein eigenes Leben uns indem wir so tun, als wären wir durch unser Schicksal irgendwie verbunden, hintergehen wir uns selbst. Wir sind alles Heuchler und Hochstapler. Keiner hatte eine Ahnung, was in Jo vorging. Man kann es so sehen, dass er seine Freunde um sich haben wollte, oder man kann es so sehen, dass er seinen Suizid perfekt inszeniert hat und uns demonstrieren wollte, wie wenig wir ihn kannten und dass wir nie richtige FReunde waren, denn keiner hatte gemerkt, dass er seit 15 Minuten tot im Bad lag, während wir uns in unserer naiven Parallelwelt suhlten.

It's too late to talk to you
And it's too soon to say good-bye
Listen where ever you may be
You still live inside my mind

Something tells me that you are free again
In a place that feels like home

It's never easy to understand
Why memories hold our hand
But people let go
No Use For A Name - Feels Like Home

Die Erfülltheit der Leere

Wenn ich zeichne, vergesse ich alles um mich herum und denke nicht einmal an meine Figur und meinen Körper. Denn ich spüre ihn in dem Moment. Diese Momente sind so intensiv, ich habe das Gefühl, ICH zu sein. Und das Gefühl kann mir keiner nehmen. Dann hebe ich ab, dann bin ich völlig schwerelos, frei, ohne Bedenken und ohne Gedanken an etwas anderes außer mich zu verschwenden. Und wenn ich aufhöre, dann wird all dieses Glück, was das Zeichnen in mir auslöst, ausgelöscht durch die bloße Erinnerung, dass ich  mich wieder in der Realität befinde. Wenn ich zeichne, dann kann ich mit mir machen, was ich will. Ich kann mich selbst zeichnen. Das kann mir keiner nehmen oder verbieten. Das Hungern lässt mich auch das machen, was ich will, aber das konnte man mir nehmen. Dieses Gefühl, Kontrolle über mich zu haben, die Macht, mich zu formen, mich so zu modellieren, wie ich mich will. Wie mit Knetgummi. Wenn ich mich bis auf die Ecken und Kanten herunter gehungert habe, habe ich das Gefühl, echt zu sein. Frei zu sein. Ich zu sein. Wenn ich mich forme, wie ich mich haben will, bin ich glücklich. Das Hungern gibt mir die Möglichkeit. Diese Leere, das Loch, das ich durch Hungern stopfen konnte, wie irreal es auch klingen mag, etwas zu stopfen mit noch weniger. Der Hunger gibt mir das Gefühl, das Loch zu füllen, auszufüllen, weil er meine Seele stopfen kann. Oder besser gesagt das, wonach sie schreit. Der Bedarf an Liebe oder was auch immer ich immer zu brauchen scheine, wenn ich mich wieder einsam, missverstanden, alleine fühle, das betäubt der Hunger. Wenn ich sehe, wie leicht man mir die Macht entreißen kann, fühle ich mich schon wieder so schwach. Das Zeichnen verleiht mir nicht halb so viel Macht. Es lässt mich nur alles andere für geringe Zeit vergessen. Wenn ich an mein gestorbenes Kind denke und mir sogar die Tränen kommen, wenn ich an die große Auge denke, die ich nie zu sehen bekam, dann geht irgendetwas in mir auf. Ich werde wieder schwächer, ich werde verwundbar. Wenn das Zulassen von Gefühlen Schwäche bedeutet, dann wünsche ich mir jedes Mal, dass ich das alles wieder betäuben könnte durch das Kribbeln und Prickeln, das mich dazu auffordert, meinen Hunger zu stillen.

Stärke

Stark ist das Mädchen, das alles zerstört, an das sie glaubt, während sie ihrer Mutter in die Augen schaut. Jeden Atemzug, der jemals durch ihre Lungen gezogen ist, ihre Blicke, die über die Klippe ihrer Wimpern gesprungen sind, ihre Knie, die aneinander rütteln, ihre Faust aber geschlossen, ihr Herz, das die Gitterstäbe ihres Brustkorbs sprengt, sagen dieses Mal: Ich werde kämpfen. Stark ist das Mädchen, das hinter ihrer Badezimmertür in hunderttausend Stücke zerbricht und deren Hoffnung sich auf dem Boden ausbreitet, sich mit den eigenen Händen den Mund zuhält, um ihnen die Schreie zu ersparen. Es ist der Mut, sich aufzuheben, die Hoffnung zusammen zu kleben und sich wieder aufzurichten, die Tür zu öffnen und sich der Welt zu stellen, die sich nicht für sie ändert. Stärke ist, in seinen Armen umschlungen ihrer Mutter zu zu hören, wenn sie den Stock im Arsch zum Rückgrad umfunktioniert. Stärke ist, den Himmel auf der Haut zu tragen, mit Wolken geformt von Fäusten, aber in ihrem Herzen weiß, wie sie das Blau in die unendliche Tiefe des Meeres umwandelt. Stärke ist, zu träumen, zu beten. Es ist, in den Spiegel zu schauen und Schönheit zu finden. Freiheit hinter der Angst zu finden. Und zu wissen, dass ihr diese niemand nehmen kann.
Manchmal wünsche ich mir, stark zu sein.

Nostalgie

Ich sitze herum, nichts zu tun, nichts zu denken. Nichts zu zeichnen, keine Bücher mehr zu lesen, ausgebrannt. Leise rieselt die Asche, still und starr tu ich mir weh. Einsamkeit, Langeweile und Desillusionierung nehmen mein Leben in die Hand, und sie nehmen die Klinge in die Hand. Sie sind es auch, die die Hand um meinen Hals legen und mich davon abhalten, zu schlucken. Blass im Gesicht und mit verkalkten Gelenken wandere ich schwerfällig in mein Schlafzimmer, ziehe den Doc-Martens-Schuhkarton unter dem Bett hervor. Meine Erinnerungsstücke aus einem glücklichem Leben, das ich mit Fackeln mutwillig niedergebrannt habe. Als ich de Deckel hebe, steigen die Erinnerungen auf wie ein Phoenix aus der Asche. Wie passen nur 16 Jahre in einen kleinen Schuhkarton? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Der Schuhkarton bewahrt nur die schönen Erinnerungen auf. Ich schaue hinab auf Fotos und Tagebücher. Für einen kurzen Augenblick flackert das Bild von vor einigen Jahren auf, als ich alles, was sich nun vor mir befindet, aus meinem Leben riss, aus ihren Ankern, und sie in diese Kiste stopfte, diese in eine Tasche zwägte und auf die Straße rannte, ohne einen Blick nach hinten zu werfen. Erinnerungen an die Umgebung außerhalb des Schuhkartons sind wie ausgelöscht. Ich sehe nur mich, inmitten der Dunkelheit, wie ich in aller Not und Eile meine Sachen zusammen pflücke, mit dem Wissen, dass ich nie wieder zurück kehren würde. Und jetzt, wo ich hier auf meinem Bett sitze und mir in diesem Heim wie ein Fremdkörper vorkomme, da öffne ich das Tor zu einer anderen Welt und breche in Tränen aus.
"A life once full
now an empty vase"
Flogging Molly - What's left of the flag